Erinnern und Vergessen - mit diesen Begriffen beschäftigt sich die Literatur- und Kulturwissenschafterin Aleida Assmann seit den 1980er-Jahren. Bei den Salzburger Festspiel-Dialogen, die am Donnerstag und Freitag in der Neuen Residenz stattfinden, spricht die 74-Jährige darüber, wie die Kunst und die Salzburger Festspiele unsere Identität prägen.
Sie und Ihr Mann Jan Assmann haben den Begriff des kulturellen Gedächtnisses geprägt. Was versteht man darunter? Aleida Assmann: Das meint, dass sich Gruppen von Menschen über einen gemeinsamen Bildungshorizont identifizieren, den man teilt und über den man sich austauschen kann. Das können auch Herkunftsgeschichten sein. Das Pflegen von Erinnerung schafft Verbindungen, wodurch eine gemeinsame Identität aufgebaut werden kann.
Welche Rolle spielen die Kunst und die Salzburger Festspiele dabei? Die Rolle der Kunst ist zentral. Die Künste waren in der Geschichte nicht immer so frei, wie wir das heute kennen. Die Kirche war lang der Rahmen, in dem sich Kunst entwickelt hat. Heute leben wir in einer säkularisierten Gesellschaft, in der die Künstler eine Eigenmächtigkeit gewonnen haben. Kunst steht weder im Dienst der Kirche noch der Politik, sondern sie kann ihre eigene Strahlkraft entfalten. Und die Salzburger Festspiele verhelfen den Künsten jährlich zu ihrem Recht, in alle Richtungen wirken zu können.
Zur Geschichte der Salzburger Festspiele gehören aber auch Kapitel wie die NS-Zeit. Das Festival wurde politisch instrumentalisiert. Ja, nach dem Ersten Weltkrieg setzte man mit den Festspielen ein Zeichen für Frieden und Freiheit, doch das hat nicht lang gehalten. Viele jüdische Künstler mussten kurz darauf Salzburg verlassen. Um mit ihrer Kunst leuchten zu können, muss auch dieser Teil der Geschichte erzählt werden, das ist wichtig für die Identität der Festspiele. Die Geschichte muss weiter beforscht und präsent gemacht werden. Und nicht der Kunst darf man den Vorwurf machen, dass sie vereinnahmt wurde, sondern es sind stets die Menschen, die sie missbrauchen.

Damit sich etwas in unserem Gedächtnis verankert, braucht es starke Bilder - welche haben die Festspiele geliefert? Das Erinnerungsvermögen der Festspielbesucher ist begrenzt, weil es jedes Jahr neue starke Bilder gibt. Und je mehr sich überlagert, desto schwieriger ist das Einbrennen ins Gedächtnis. Für mich ist das stärkste Bild die Stadt Salzburg selbst. Die Touristen nehmen sie als Kulisse wahr, aber während der Festspiele wird die Stadt zur Bühne. Das Festspielpublikum kann flanieren, nach den Aufführungen zusammenkommen. Man tauscht sich mit Leuten vom Nebentisch darüber aus, was man gesehen hat. Und es geht auch um das Sehen und Gesehenwerden.
Das Festival hat aber auch den Ruf, vor allem Ältere und Gutverdienende anzusprechen. Geht es bei kultureller Identität auch um Ausschluss? Das ist ein wichtiger Punkt. Diese Differenz zeigt sich in der Hofstallgasse im Festspielbezirk: Auf der einen Seite der Straße sind die Festspielbesucher, die schön gekleidet und in Hochstimmung sind, auf der anderen Seite die Touristen, die Zaungäste, die diese wiederum bestaunen. Die Hochkultur, die bei den Festspielen gezeigt wird, zieht Eliten an und damit ein finanzkräftiges Publikum. Dabei möchten Künstler vorrangig alle Menschen ansprechen. Die Frage ist: Wie schafft man es, die Ausgeschlossenen, vor allem jene, die nicht einmal dort gegenüberstehen, sondern gar nicht teilhaben, einzubinden? Vor allem, weil die Gesellschaft diverser und ungleicher wird.
Wie könnte man das lösen? Die Frage, wer wir sind, ist eine so zentrale. Die Festspiele sind nicht auf eine Identität festzulegen. Sie haben eine lokale Verankerung in Salzburg, aber sie werden auch national, europäisch und global wahrgenommen. Das Entscheidende ist, keine Grenze zu ziehen, denn die Kunst zieht auch keine. Kunst braucht aber kulturelle Bildung. In den diversen Klassen, die wir heute in Schulen vorfinden, sollten Zugänge geöffnet werden, um unterschiedliche Erfahrungen auszutauschen. Es müssen mehr Begegnungen und Treffpunkte geschaffen werden, die Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Voraussetzungen erreichen und gemeinsam erleben können. Diese Chance könnte man für die Festspiele stärker nutzen.
Das gemeinsame Erleben von Kunst ist dabei essenziell? Das Entscheidende ist die Interaktion und dass man Teil des Ganzen werden kann. Bei einer Aufführung treten Künstler und Besucher in ein intimes Verhältnis. Das Gefühl ist dabei das Einlasstor in die Welt der Kunst. Und dieser Sog wird verstärkt, wenn es in einer Echtzeitsituation und nicht vor einem Bildschirm passiert, weil man neben anderen sitzt, die dasselbe erleben. Man geht am Ende hinaus und weiß, man hat etwas gemeinsam erlebt. Und dieses Gesamtkunstwerk wird in Salzburg jährlich mit den Festspielen gefeiert.
Sie haben die Zeit, die sie wegen Geburt und Erziehung ihrer fünf Kinder außerhalb der Universität verbracht haben, dazu genutzt, sich in andere Forschungsfelder einzulesen. Wie haben Sie das gemacht? Man kann jede Einschränkung mit viel gutem Willen auch als eine Möglichkeit sehen. So habe ich mir die Freiheit genommen, mich in andere Themengebiete einzulesen, von Kollegen zu lernen, auch in einem Arbeitskreis, denn in der Isolation kommt man nicht weiter. Man braucht die Kritik und Anregung der anderen. Und jetzt ist es der Ruhestand, der es mir erlaubt, wieder aus der Universität herauszugehen und mich in brandaktuelle Themen der Gesellschaft einzumischen.
Welche sind das? Wir leben in einer Zeit, die sich durch Migration dramatisch schnell wandelt. Und ich frage mich, wie man das nicht nur erleidet, sondern hier auch gestaltend eingreifen kann. In der Projektgruppe "Gemeinsinn", die wir gegründet haben, fragen wir, wie sich das Individuum entwickeln muss und was es lernen und tun muss, um in einer Gesellschaft, die so viel heterogener geworden ist, gut im Miteinander leben zu können. Wir überlegen, wie wir dieses neue Wir gestalten können. Und da spielt auch das kulturelle Gedächtnis wieder eine wichtige Rolle.