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Ein Kuss, der Urknall und das grenzenlose Wachstum des Internets

Die Digitalisierung beschleunigt und verbreitet Kommunikation in einem Ausmaß, das immer öfter als bedrohlich empfunden wird.

Thomas Hofbauer
Ein Kuss, der Urknall und das grenzenlose Wachstum des Internets
Ein Kuss, der Urknall und das grenzenlose Wachstum des Internets

Das Muster ist immer das gleiche, die Themen sind austauschbar: Ein lesbisches Paar wird wegen eines Kusses aus einem Café geworfen, ein Diskonter nimmt Flüssigseife aus dem Programm, weil sich Kunden über die Abbildung einer Moschee auf dem Etikett beschweren, der Papst vergleicht die übermäßige Vermehrung seiner Schäfchen mit dem Fortpflanzungsverhalten von Kaninchen. Kaum getan oder gesagt, bricht ein Sturm der Entrüstung im Internet los. Ein Shitstorm. Die Intensität, die Geschwindigkeit und das Verbreitungsgebiet dieses Sturms sind oft beunruhigend. Im Fall des Wiener Ring-Cafés schlugen die Wellen weit über den Ring, über Wien, ja über Österreich hinaus. Steht das in einem angemessenen Verhältnis zum Ereignis? 2000 Menschen protestierten dann auch noch direkt vor dem Café. Das Aufzeigen von Ungerechtigkeit ist wichtig und richtig, aber warum müssen Einzelne die Wut aushalten, die sich im Grunde gegen etwas viel Größeres richtet?

Dass man in derartigen Situationen eigentlich alles nur falsch machen kann, zeigt das Beispiel eines deutschen Diskonters. Der wollte eine Flüssigseife mit dem klingenden Namen "1001 Nacht" mit einer Moschee auf dem Etikett verkaufen. Doch zuerst erntete er Kritik für die Gestaltung und die missverständliche Symbolik. Man entschuldigte sich und nahm das Produkt aus dem Sortiment. Das führte wiederum zum Shitstorm durch eine andere Gruppe, die meinte, dass diese Maßnahme völlig überzogen sei.

Wird die entfesselte Kommunikation über das Internet zum Kulturphänomen des 21. Jahrhunderts? Schlittern wir in eine Kultur des Aktionismus und der permanenten Skandalisierung, die wichtige Themen nur mehr anhand von Einzelfällen diskutiert? Eine Gesellschaft mit dem Grundsatz: Einer für alle und darum treten alle auf den einen?

Pessimismus ist an dieser Stelle aber unangebracht. Denn durch die Digitalisierung sind nur unsere Ohren empfindlicher geworden und unser Blick reicht tausend Mal weiter als bisher. Das Rauschen, das wir derzeit als Sturm wahrnehmen, hat es immer schon gegeben. Derartige Diskussionen fanden an Stammtischen, am Kirchenplatz und in Gesprächsrunden immer schon statt. Sie waren da, eine breite Öffentlichkeit konnte sie aber nicht wahrnehmen.

Durch die Digitalisierung der Kommunikation kam die Veränderung, denn das Internet ist ein enormer Verstärker für unsere Sinne. Dazu kommt, dass die Ausdrucksform relativ neu und das Echo darauf entsprechend groß ist. Daher ist das, was uns eigentlich entsetzt, nicht das, worüber gesprochen wird, sondern dass es sich so enorm schnell und weit verbreitet und für jeden zugänglich ist.

Dabei ist Kommunikation nicht das Einzige, das sich in der digitalen Welt grenzenlos entwickelt. Auch Technologietreiber wie Google, Amazon, Facebook oder Apple wachsen unaufhaltsam. Barrieren gibt es auch für sie nicht. Für Kriminalität, Terrorismus und Spionage ebenso wenig. Sie alle breiten sich wie das Universum durch den Urknall dahin aus, wo davor nicht einmal das Nichts war.

Wenn wir die Geschwindigkeit und Grenzenlosigkeit des Internets als irritierend und verunsichernd wahrnehmen, liegt das auch daran, dass wir unsere Lebenswelt normalerweise als begrenzt empfinden. Wir agieren stets im Bewusstsein, begrenzte Ressourcen zur Verfügung zu haben, begrenzte Fortbewegungsmöglichkeiten, begrenzte Zeit, begrenzten Raum.

Das Internet stellt diese Wirklichkeit auf den Kopf. Denn es wächst zwar stetig, doch je mehr es wächst und sich vernetzt, desto schneller und näher wird alles in ihm. Diese Vernetzung hilft uns aber auch, alte Grenzen zu überwinden. Durch die Vernetzung werden wir Ressourcen effizienter nutzen. Wir werden uns wieder rascher fortbewegen und virtuelle Räume werden dort Raum bieten, wo er physisch knapp wird. Doch vorerst sind wir von der Geschwindigkeit und Grenzenlosigkeit des Internets überrascht und befürchten, dass es die Gesellschaft weiter auseinanderbringt. So wie das Universum seit dem Urknall immer weiter auseinanderstrebt.

Es gibt aber auch eine andere Theorie zum Universum, die vereinfacht besagt, dass es jene kritische Masse in sich trägt, um durch die eigene Schwerkraft in sich zusammenzuhalten. Die Neugier und der Gestaltungswille von jedem wären daher wichtig, damit auch im Internet so viel kritische Masse entsteht, um es in sich zusammenzuhalten und ihm dadurch jene Grenzen zu geben, die nötig sind.