Ich bin dann in den Keller gegangen. Nicht zum Weinen. Dabei gäbe es genug Gründe zum Weinen - erst recht, wenn man von ein paar Tagen in den USA zurückkehrt. Im Land der Freien ereignet sich eine beeindruckende Hingabe zum Demolieren der Demokratie. Es bleibt aber auch das Land der Songs, die sich wie ewige Begleiter anfühlen. Dylan, Reed, Vega, Springsteen, Young, Van Zandt. Oder Tracy Chapman, die heuer bei der Grammy-Verleihung 15 Jahre nach ihrer letzten Tour erstmals wieder auftrat. In den Tagen danach verwies Chapman in den Charts der Download-Plattformen Taylor Swift und Dua Lipa und Miley Cyrus auf hintere Plätze. Ein 36 Jahre alter Song regierte die Neuigkeitenliste: "Fast Car".
Beim Suchen im Keller denke ich an einen Artikel. Da las ich, dass etwa 100.000 neue Songs pro Tag auf den Musikstreaming-Plattformen hochgeladen wurden. Von 2021 bis 2022 wuchs die Musikbibliothek von Spotify um 18 Millionen Tracks. Angenommen, die durchschnittliche Songdauer ist drei Minuten, dann sind das 54 Millionen Minuten oder 40.000 Tage oder knapp 110 Jahre. Mittlerweile haben zwei brandneue Songs von Beyoncé wieder die Chartspitze übernommen. Ich hänge an einem alten Song fest: "Fast Car".
Der Song ist quasi ein stilles Pendant zu "Thunder Road" von Bruce Springsteen - auch so ein Lied, in dem zwei aus einem Elend aufbrechen in die Hoffnung. "Starting from zero, got nothing to lose", singt Chapman. Ein Song voller Schönheit und Würde, voller Poesie und Zuversicht ist es. Ein Song ohne Ablaufdatum. Auf Social-Media-Kanälen werden auch deshalb so viele Erinnerungen an und über Chapman geteilt. Ich habe mitgemacht. Bei Instagram können Sie das Foto einer Aufnahme aus dem Jahre 1988 finden. Ich hab's gemacht, nachdem ich im Keller war. Im Keller stehen Kisten: Lesestoff und Musik. Etwas anderes zu besitzen scheint mir unnötig: Bilder im Kopf, Texte im Hirn, Musik im Bauch. Viele Kisten. Das ist das Gute, wenn man selten übersiedelt. Da besteht wenig Grund zum Wegschmeißen. Nimmt man halt mit, was sich angesammelt hat. Andere reden von belastendem Zeug. Ich nenne es Archiv. Ich bin in den Keller gegangen, um eine Kassette zu suchen, die ich einst selbst aufgenommen habe, am 11. Juni 1988. Da wurde das Riesenkonzert "Free at 70 - Nelson Mandela" im Radio übertragen. Da war das Wembley-Stadion voll. Zehntausende waren dort. Es ist eine Party, man wartet auf die Stars. Mittendrin hört man diese noch, aber nicht mehr lange Unbekannte, diese so schüchtern wirkende Frau namens Chapman. Allein mit ihrer Gitarre zähmt sie eine ausgelassene Menge mit "Fast Car" und drei anderen Songs. Diese Erinnerung an die Macht eines Liedes vergeht nicht. Der alte Kassettenrekorder unten im Keller geht auch noch. Und ich habe dann doch weinen müssen.



