Dass sich Perceval, einer der wesentlichen europäischen Theatermacher unserer Zeit, mit diesem leisen, nachdenklichen Abend den alten Traum erfüllt hat, "Romeo und Julia" nicht als Tragödie einer jungen Liebe zu zeigen, sondern als Resultat von viel Lebenserfahrung, erschließt sich ebenso wenig wie der Witz jenes Romans, den er mit Shakespeare verschnitten hat: "Der Bibliothekar, der lieber dement war, als zu Hause bei seiner Frau" des flämischen Autors Dimitri Verhulst erzählt von einem Mann, der mit Anfang 70 bewusst seiner bürgerlichen Existenz entflieht, indem er eine Demenzerkrankung vortäuscht. Das gelingt ihm perfekt. Doch im Heim begegnet er seiner einstigen Jugendliebe Rosa wieder. Böse Pointe: Da sie wirklich dement ist, erkennt sie ihn nicht wieder. Will er nicht riskieren, dass sein Täuschungsmanöver auffliegt, darf er aber nicht versuchen, ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.
Nichts von alldem findet sich an diesem knapp 100-minütigen Theaterabend wieder, für den Katrin Brack aus Metallrohren und Holzbrettern eine kleine Arena samt extra beleuchtbarer Minidrehbühne gebaut hat. Auf der Tribüne sitzt der von einem Dutzend alter Damen gebildete "Vergissmeinnicht-Chor". Er bildet, vor sich hindämmernd, das Spiel verfolgend, gelegentlich ein wenig interagierend, die Kulisse für ein eindrucksvolles Solo von Tobias Moretti.
Der 58-jährige Schauspieler, der damit nach langer Pause wieder an die Burg zurückkehrt, spielt seine 74-jährige Figur als weltentrückten, vorzeitig gealterten Eigenbrötler, der in Windelhose und meist im Schlafanzug verloren über die Bühne irrt und gelegentlich in einen eindrucksvollen Wutanfall ausbricht, um seine Unzurechenbarkeit glaubwürdig zu untermalen. Momente des Alleinseins, des seine Situation Kommentierens, gar des Entdeckt-Werdens wie im Roman, als ihm ein Heiminsasse auf die Schliche kommt, gönnt Perceval seiner Hauptfigur nicht. Einzig ein paar gelegentlich übers Mikroport beiseite gesprochene Kommentare machen den doppelten Boden deutlich, auf dem Desire sich bewegt.
Ansonsten regiert die Realität der Altenpfleger (Sylvie Rohrer, Marta Kizyma und Daniel Jesch) und der Familie (Gertraud Jesserer ist die wütende, dem Mann seine Erkrankung nicht glaubende Ehefrau, Sabine Haupt die erschütterte, wahrhaft um ihren Vater trauernde Tochter). Das macht aus "Rosa oder Die barmherzige Erde" vor allem eine Auseinandersetzung über den Verlust - des Gedächtnisses, der Persönlichkeit, der eigenen Lebenszusammenhänge und, natürlich, der Liebe. Nicht ungeschickt schneidet Perceval immer wieder Passagen aus "Romeo und Julia" in das Geschehen, doch letztlich entsteht dabei kaum mehr als eine Ahnung von der berühmtesten Liebestragödie, die hier von der Erinnerung an das vermurkste Kennenlernen zwischen Desire und Rosa auf einer Tanzveranstaltung überlagert wird.
Dass Perceval die angebetete Rosa nicht als ebenso betagte Heiminsassin, sondern ausschließlich von einer stumm bleibenden jungen Frau (Mariia Shulga) darstellen lässt, die wenigen Julia-Textpassagen jedoch von einer jungen Pflegerin (Marta Kizyma) gesprochen werden, verkomplizieren das Geschehen zusätzlich. Und auch Hochwürden (Stefan Wieland) scheint sich nicht immer auszukennen, ob er gerade junge Liebende oder alte Pflegebedürftige zu trösten hat.
Luk Perceval, der die vergangenen 18 Jahre vorwiegend in Deutschland arbeitete, hat große Probleme mit dem gegenwärtigen Stadt- und Staatstheater-Betrieb. Ein bisschen wirkt "Rosa oder Die barmherzige Erde", als sei er zum Abschied extra viel Risiko eingegangen. Es gibt aber möglicherweise doch sehr gute Argumente dafür, dass "Romeo und Julia" normalerweise von jungen Leuten gespielt wird. Und Dimitri Verhulsts Roman ist übrigens durchaus lesenswert.