Nach Feierabend eines langen Arbeitstages klingelt es an der Tür der jungen Ärztin Jenny (Adèle Haenel). Sie ist schon zu müde, um aufzumachen, doch am nächsten Tag steht die Polizei in ihrer Praxis: Eine junge Frau wurde in der Nähe ermordet, das Überwachungsvideo hat ergeben, dass sie es war, die gestern Abend zur Ärztin wollte. Jenny fühlt sich schuldig, und beginnt die Identität der Toten zu recherchieren: "Das unbekannte Mädchen" der für ihre Sozialdramen vielfach ausgezeichneten belgischen Regiebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne stellt moralische Fragen. Doch eigentlich, sagt Luc Dardenne im SN-Interview, gehe es um Europa, und darum, wie unsere Gesellschaft mit der Verantwortung für Flüchtlinge umgeht.
Von der Struktur wirkt dieser Film fast wie ein Thriller. Wollen Sie das Fach wechseln?
Luc Dardenne: Es ist wahr, wir haben hier Spannung konstruiert, durch die Suche nach dem Namen der Toten, und auch durch die Frage der Schuld. Aber nein, wir wollen keinen Film noir machen. Die Frage, der wir nachgehen wollten, war eine andere: Wer fühlt sich schuldig, wer fühlt sich verantwortlich? Wird es der Ärztin gelingen, die anderen zu einer Verhaltensänderung zu bringen? Wird sie sie von der Krankheit der Gleichgültigkeit befreien können? Natürlich stellt sich die Frage danach, was in dieser Nacht wirklich passiert ist. Aber die Ärztin wird nicht zur Detektivin, das ist uns wichtig.
Ihre Filme handeln von Gescheiterten, von Obdachlosen, von Waisenkindern, und jetzt von einer unbekannten Toten. Wie finden Sie Ihre Geschichten?
Oft gehen wir von Zeitungsmeldungen aus und entwickeln daraus Geschichten, die unsere Zuschauer vor moralische Fragen stellen. Hier war's aber anders: Wir wollten vom Dilemma einer Ärztin erzählen, vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingskrise. Die Aufgabe einer Medizinerin ist es, Leben zu schützen, und wir schildern sie hier in einer Situation, wo sie das Gegenteil tut - zwar nicht mit Absicht, aber ihre Entscheidung trägt bei zum Tod einer Person: Hätte sie die Tür geöffnet, wäre dieses Mädchen nicht ermordet worden. Was macht das mit dieser Ärztin?
Sie sprechen von moralischen Fragen. Aber ist "Moral" nicht ein altmodischer Begriff?
Ja, so sehen das heute viele Menschen. Es gibt unterschiedliche Arten, Kino zu machen, aber es stimmt, mein Bruder und ich stellen in unseren Filmen immer solche Fragen. Diese Ärztin ist besessen davon, die Identität des unbekannten Mädchens herauszufinden, dessen Tod sie womöglich mitverursacht hat, obwohl jedes Gericht sie von der Verantwortung freisprechen würde. Wir haben diese moralische Figur erfunden als Reaktion auf eine Gesellschaft, in der es immer weniger Menschen gibt, die so handeln würden. Dabei ist es wichtig, den Namen dieser Toten herauszufinden. Solange sie keinen Namen hat, kann ihre Familie nie erfahren, was mit ihr passiert ist, niemand kann sie betrauern. Dann wäre es, als hätte sie nie existiert.
Dies trifft tatsächlich auf viele Menschen zu, die an den EU-Außengrenzen sterben. Ist es das, worauf Sie anspielen?
Ja. Ich halte es für unsere Verantwortung als europäische Bürger, für eine EU-weite Lösung zu kämpfen, um diese Flüchtlinge in ganz Europa aufzunehmen. Wir dürfen dieses Problem nicht nur den Italienern und den Griechen überlassen. Ich träume von einer gesamteuropäischen Demonstration, vielleicht in Brüssel, wo alle Menschen gemeinsam auftreten und den Regierungen sagen: "Hört auf, uns nur Angst zu machen, und sucht endlich eine gemeinsame Lösung!" Es heißt von den nationalen Regierungen immer nur, die EU zwinge zu diesem oder zu jenem. Aber viel wichtiger sind doch konkrete Ideen. Natürlich kann ein kleines Land wie Belgien oder Österreich keine drei Millionen Flüchtlinge aufnehmen, aber 100.000 Menschen sollten doch kein Problem sein. Derzeit haben die rechtspopulistischen Bewegungen das Oberwasser und verhindern das. Aber ich glaube, wir als Bürger können viel mehr bewirken können, als wir denken.
Film:Das unbekannte Mädchen. Belgien/Frankreich 2016. Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne. Mit Adéle Haenel, Olivier Bonnaud, Jérémie Renier, Nadège Ouedraogo, Olivier Gourmet. Start: 10. 2.