Mächtige dunkle Bäume, von denen wie geklöppelte Spitze Spanisches Moos hängt, Nebel steigt aus den Wiesen, und im Hintergrund thront eine schneeweiße Villa mit klassizistischem Säulenportikus: "Die Verführten" von Sofia Coppola spielt vor romantischer Südstaatenkulisse wie im Bilderbuch, im Virginia des Jahres 1864. Früher wurden an solchen Orten im Kino Kriege um Herzen ausgefochten, jetzt tobt der Sezessionskrieg, in der Ferne rumpelt Kanonendonner, und die wenigen verbliebenen Frauen und Kinder in Martha Farnsworths Mädchenpensionat drängen sich ängstlich aneinander in ihren anmutigen weißen Rüschenkleidern. Eine von ihnen, die elfjährige Amy, hat beim Schwammerlsuchen einen verletzten Unionssoldaten gefunden, einen Feind. Doch auch einem verletzten Feind muss geholfen werden, heißt es in der Bibel. Also hat Amy den fremden Soldaten mitgebracht, verdreckt, blutverschmiert, halb ohnmächtig. Gewaschen und verarztet erweist sich der Mann (gespielt von Colin Farrell) freilich als höflich, wortgewandt und reizvoll in mehr als nur einer Hinsicht, und die Schar der Mädchen um Schulleiterin Miss Farnsworth (Nicole Kidman) und Musiklehrerin Edwina Dabney (Kirsten Dunst) ist in heller Aufregung.
Die Szenerie, vor der "Die Verführten" spielt, war zuletzt Filmschauplatz für Geschichten ganz anderer Art, um Sklaverei ging es da, um Folter, Mord und Vergewaltigung, in Filmen wie "12 Years a Slave", "Birth of a Nation", "Django Unchained", und an den Ästen, an denen hier malerisch das Spanische Moos weht, hingen gelynchte Sklaven. Dieser Teil der amerikanischen Geschichte bleibt in Coppolas Film unausgesprochen. Doch die rohe Brutalität der weißen Herrscherkaste ist auf andere Weise präsent und bringt die Erzählung zum Vibrieren, etwa wenn zu Beginn kurz erwähnt wird, warum die Schule so desolat ist: Die schwarzen Männer und Frauen, die das Haus bis vor Kurzem instand zu halten gezwungen waren, sind alle längst gegangen, und die noblen weißen Damen sind es nicht gewöhnt, sich die Hände dreckig zu machen. Sie sind es auch nicht gewöhnt, mit sinnlichen Verführungen umzugehen, und die Anwesenheit dieses charmanten Mannes, der mit jeder von ihnen ein wenig anders, vertraut, verschwörerisch umgeht, bedroht das stabile Gefüge der Frauengemeinschaft: Auf einmal gibt es Eifersucht, plötzlich aufblühendes sexuelles Begehren, auf einmal ist da Neid. Und gegen diese Bedrohung gilt es sich abzugrenzen - mit drastischem Ausgang.
Der Stoff, auf Basis dessen Coppola ihren Film gedreht hat, ist das gleichnamige Southern-Gothic-Drama von Thomas P. Cullinan von 1966 und wurde 1971 bereits einmal verfilmt, mit einem blutjungen Clint Eastwood als verletztem Soldaten. Unter der Regie von Sofia Coppola wird aus dem schaurigen Drama eine betörend sinnliche, zugleich kluge, witzige und hinterfotzige Studie über das Begehren der jungen Frauen und Mädchen, die sich angesichts des Soldaten abarbeiten an verletzlicher, verführerischer, manipulativer, reizvoller bis hin zu bedrohlicher Männlichkeit. Nicole Kidman wurde dafür in Cannes mit dem Spezialpreis des Festivals ausgezeichnet, Sofia Coppola wurde als beste Regisseurin geehrt - im Übrigen erst die zweite Frau in 70 Jahren Festivalgeschichte, der dieser Preis zuteilwurde.
Ein Hinweis: Im Filmcasino Wien gibt es "Die Verführten" von 1971 und von 2017 im Double Feature, Fr., 30. Juni, und Fr., 7. Juli (jeweils ab 20.30 Uhr). www.filmcasino.at
Kino: Die Verführten. Drama, USA 2017. Regie: Sofia Coppola. Mit Nicole Kidman, Kirsten Dunst, Colin Farrell, Elle Fanning. Start: 30. 6.