Am wunderschönen Spätsommerabend des 9. September wurden in Venedig die Preise der diesjährigen Filmfestspiele vergeben. Eigentlich stand der Sieger heuer aber schon seit dem zweiten Festivaltag fest: Nach der Premiere von "Poor Things" des griechischen Regisseur-Wunderwuzzis Yorgos Lanthimos ("Lobster", "The Favourite") am 1. September war allen Anwesenden klar, dass man hier soeben Zeuge oder Zeugin von etwas ganz Großem war. In "Poor Things" spielt Emma Stone eine junge Frau in einem fiktiven viktorianischen London, der von einer Frankenstein-inspirierten Vaterfigur (Willem Dafoe) das Gehirn eines Babys eingepflanzt wird, und die dadurch Kindheit und Adoleszenz sozusagen im Schnellvorlauf erlebt.
Unverbaut von Konventionen erforscht sie die Sexualität ihres erwachsenen Körpers und stößt dabei schnell auf die harten Grenzen des Patriarchats - wie sie damit umgeht, beschreibt der Film mit enormer Sinnlichkeit und Intensität.
"Poor Things" traut sich viel und macht dann auch fast alles richtig - da konnte auch die Wettbewerbs-Jury (darunter u.a. Damien Chazelle, Jane Campion, Mia Hansen-Løve und Laurao Poitras) nicht mehr aus.
Umstritten: Die Kür der besten Hauptdarstellerin
Umso umstrittener ist die Wahl der besten Schauspielerin im Wettbewerb: Dass die Auszeichnung dafür, die Coppa Volpi, ausgerechnet an die Cailee Spaeny, Hauptdarstellerin von Sofia Coppolas flachem Biopic "Priscilla" ging, verwundert ein wenig. Zwar leistet die junge Darstellerin in der Tat Großes, wenn sie auf der Leinwand mit dem Drehbuch und den offensichtlichen Vorgaben von Co-Produzentin Priscilla Presley kämpft - aber was letztlich herauskommt, bleibt beispielsweise gegen Emma Stones Performance im Siegerfilm weit abgeschlagen.
Aber weil die Preisvergabe in Venedig auch an das ungeschriebene Gesetz gekoppelt ist, dass die Preisträger tunlichst selbst ihre Auszeichnungen entgegennehmen, war die streikende Stone letztlich aus dem Rennen. Persönlich erscheinen konnte dafür Peter Sarsgaard, der für seine Rolle in Michel Francos "Memory" als bester männlicher Hauptdarsteller ausgezeichnet wurde. Er bekam die Coppa Volpi durchaus verdient. Dieses Drama lebt vor allem von den Performances von Sarsgaard und seinem Co-Star Jessica Chastain, die ebenfalls als Favoritin für den Preis gehandelt wurde.
Großer Jurypreis für japanischen Oscar-Gewinner
Der große Preis der Jury ging an den japanischen Regisseur Ryusuke Hamaguchi. In seinem neuen Film "Evil Does Not Exist" erzählt der Oscar-Preisträger die Geschichte einer Dorfgemeinschaft in einer (relativ) naturbelassenen Landschaft unweit von Tokyo, die mit dem Projekt eines Luxus-Campingplatzes konfrontiert wird. Viele schöne Bilder, lange Einstellungen, wunderbare Musik und auch ein durchaus politisches Statement, das als anti-imperialistisch gelesen werden kann und soll, wie der Regisseur betont.
Politische Entscheidungen
Viel deutlicher politisch fielen die Jury-Entscheidungen für den Spezialpreis der Jury und den Silbernen Löwen für die beste Regie aus. Letzteren erhielt der Italiener Matteo Garrone, der in "Io capitano" die Geschichte eines 16-jährigen Buben erzählt, der gemeinsam mit seinem Cousin aus dem Senegal nach Europa flieht, um dort eine lebenswerte Zukunft zu finden. Der Mann, dessen tatsächlich erlebte Geschichte einen Teil des Drehbuchs und den Filmtitel inspirierte, konnte auch nicht persönlich an den Lido kommen - nicht etwa wegen des Streiks, sondern weil er seinen Aufenthaltsstatus damit gefährdet hätte. So ging der Applaus an Garrone und seinen wunderbaren Hauptdarsteller Seydou Sarr, der den Marcello-Mastroianni-Preis für den besten Nachwuchsdarsteller erhielt.
"Immer noch raubt man Menschen ihre Würde"
Den Spezialpreis vergab die Jury an "Green Border" der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland, ebenfalls ein Drama, das sich den Geschichten von Geflüchteten widmet, allerdings um einiges gnadenloser und härter, er behandelt die Menschenrechtsverletzungen an der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus. Es ist kein Propagandafilm, wie der polnische Rechtsaußen-Verteidigungsminister via Tweet kommentierte, sondern ein Film, der auf sorgfältige Recherche basiert. "Immer noch raubt man Menschen in diesen Wäldern ihre Würde, ihre Rechte, ihre Sicherheit, ihr Leben", sagte Holland in ihrer Dankesrede.
Trotz allem ein versöhnliches Ende der 80. Filmfestspiele von Venedig, die trotz des runden Jubiläums erstaunlich pauken-, trompeten- und skandalfrei über die Bühne gingen: Die Preise sind gut verteilt, die Jury entschied durchaus fair und nachvollziehbar. Was bleibt, ist die Hoffnung auf die große Macht des Kinos, auf dass sie in den Köpfen und den Herzen etwas bewege.