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"Caracas, eine Liebe": Hass und Leidenschaft in der kaputten Stadt

Bei den Filmfestspielen in Venedig siegte Regisseur Lorenzo Vigas. Jetzt ist sein Film aktueller denn je.

Ein Mann holt sich junge Burschen von der Straße, und bezahlt sie dafür, dass sie sich ausziehen, während er sie aus der Ferne beobachtet. Einer von ihnen schlägt ihn aber zusammen und raubt ihn aus, doch der Mann sucht ihn erneut auf: "Caracas, eine Liebe" ist ein erschütternder, seltsamer Liebes- oder Hassfilm, und das gefeierte Spielfilmdebüt des venezolanischen Regisseurs Lorenzo Vigas, der in Venedig mit dem Goldenen Löwen belohnt wurde.

SN: Derzeit ist Venezuela in den Schlagzeilen mit Nahrungsmittelengpässen, von bürgerkriegsartigen Zuständen, von Ausfällen in Schulen. Ist es derzeit möglich, in Caracas künstlerisch zu arbeiten?

Lorenzo Vigas: Ja, das ist es immer. Aber wir könnten den Film heute nicht so machen, wie es vor zwei Jahren noch möglich war. Der Mensch gewöhnt sich an die fürchterlichsten Umstände, und man ja nicht einfach aufhören, Dinge zu tun, aber Filmemachen ist tatsächlich fast unmöglich geworden, schon allein, weil es Verpflegung für die Crew braucht, und es gibt kaum noch etwas zu essen gibt in Venezuela. Und du brauchst Sicherheitsleute für das Drehen auf der Straße, Caracas gilt neuerdings als gefährlichste Stadt der Welt. Die Dinge sind wirklich hart geworden, aber das ist kein Grund, aufzugeben. Ich kenne Leute, die auch jetzt noch Filme drehen, auf Smartphones etwa, und ich halte das für sehr wichtig, obwohl wir in dieser Hölle leben. Ich glaube, dass es noch schlimmer wird.

SN: Wie ist das möglich?

Es gibt keinen einfachen Ausweg. Die Leute an der Macht wollen ihre Position behalten, weil es Öl gibt im Land und Geld, und sie wollen das Geld nicht hergeben. Und die Militärkräfte sind immer noch loyal dem Regime gegenüber, die sind durch den Chavismo enorm reich geworden. Es ist also in ihrem Interesse, den Status quo aufrechtzuerhalten. Ich glaube nicht, dass sich kurzfristig etwas ändert.

SN: Ist das Caracas im Film ein realistisches Abbild der Stadt, wie sie vor zwei Jahren war?

Ja, sehr genau, dieser Mangel an Austausch und Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Klassen, der Intoleranz, der Gewalt auf der Straße, das ist genau so, wie Caracas schon vor zwei Jahren war.

SN: Sie haben in einem Interview letzten Herbst die Idee abgelehnt, dass Ihr Film ein politischer Film sei. Aber Sie haben doch gar keine Wahl. Natürlich ist der Film politisch.

Ich lehne den Gedanken nicht ab, aber ich wollte einfach eine Geschichte voller persönlicher Obsessionen erzählen, in denen ich mich wiedererkenne: Die Vatersache zum Beispiel, von der bin ich besessen, ich arbeite an einer Trilogie zum Thema. Und ich bin zwar selbst nicht homosexuell, aber ich erkenne mich wieder im Voyeurismus meiner Hauptfigur, und ich habe eine ähnliche Persönlichkeit wie er. Aber Sie haben recht, jede ehrliche künstlerische Arbeit ist unbedingt und unvermeidlich auch politisch, weil sie einen Standpunkt bedeutet.

SN: Der Film kommt wenige Wochen nach dem Massenmord in einem Homosexuellenclub in Orlando ins Kino. Als Erklärung für diesen Anschlag wurde vielfach der englischen Begriff "Toxic Masculinity" verwendet, ein destruktives Verständnis von Männlichkeit. Liegt nicht dasselbe Problem den Konflikten in Ihrem Film zugrunde

Ja, absolut. In meinem Film, wie in vielen lateinamerikanischen Ländern, stehen Männer unter großem Druck, Machos zu sein und Macht ausüben zu müssen. Der Film handelt vom Zusammentreffen zweier Alphapersönlichkeiten, die aufeinander Macht ausüben. Der junge Elder ist unter dem Zwang, ein Alpha-Macho zu sein, und er trifft auf Armando, der schwul ist.

In machistischen Ländern herrscht der Gedanke vor, dass schwule Männer schwächlich sind. Aber im Film ist es genau umgekehrt, Armando ist viel härter drauf als der Junge, der ihn dafür am Ende bewundert. Also ja, genau diese destruktive Männlichkeit ist sehr präsent im Film, wie in jeder homophoben Gesellschaft, besonders in niedrigeren Gesellschaftsschichten. In den besser gebildeten Schichten in Venezuela gibt es kaum Homophobie, aber je niedriger, desto mehr werden schwule Männer gehasst.

SN: Der Hass auf Schwule, Lesben und Transsexuelle scheint momentan weltweit einen entsetzlichen Aufschwung zu erleben. Warum Ich glaube, das alles zeigt, dass auf der ganzen Welt enorme Spannungen herrschen. Niedere Instinkte sagen uns immer, das abzulehnen, was nicht so ist wie der Mainstream. Die Folgen sind Rassismus, Hass gegenüber Homosexuellen, und so weiter.

Die Menschen lehnen ab, was nicht so ist, wie sie selbst glauben sein zu müssen. Als Reaktion auf Spannungen werden Leute aggressiv, wenn sie keine anderen Strategien haben, mit negativen Gefühlen umzugehen. Das ist in meinen Augen eine Frage der Bildung.

Film: Caracas, eine Liebe. Thriller. Venezuela 2015. Regie: Lorenzo Vigas. Mit Alfredo Castro, Luis Silva, Jericó Montilla. Start: 1. 7.

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