Im Gegenlicht funkelt ein Eisblock blaugrün, Einschlüsse im Eis brechen die Sonnenstrahlen. Der Mann mit der Kamera steht zu weit weg, um sein Foto machen zu können. Er zieht Stiefel und Socken aus, geht barfuß ins Meer und drückt ab.
Es sind gewaltige Bilder, die der furchtlose James Balog macht: Seit Jahrzehnten dokumentiert der Naturfotograf und Geograf unsere Umwelt. Vor etwa sieben Jahren begann er, sich intensiver für Eis zu interessieren, und begann eine Serie von Fotos, die nicht nur die Schönheit, sondern vor allem den Horror des Sterbens von Gletschern und Eiszungen dokumentiert. Filmemacher Jeff Orlowski begleitete Balog daraufhin drei Jahre lang bei seiner Arbeit, in Landschaften, die unwiederbringlich verloren sind, in Grönland, Alaska und Island. Der Film "Chasing Ice" ist das Ergebnis dieser Zusammenarbeit.
Mit extremen Wetterereignissen wie dem Jahrhunderthochwasser des vergangenen Sommers in Europa, Tropenstürmen und der immer länger andauernden Buschfeuersaison ist der Klimawandel längst spürbar geworden - und trotzdem enden Klimakonferenzen weiterhin mit faulen Kompromissen. Was, so fragte sich James Balog, muss noch passieren, bis wir reagieren?
Ursprünglich hatte James Balog selbst an der Dramatik des Klimawandels gezweifelt: Schließlich existieren doch auch Studien, die das Wachsen von einzelnen Gletschern nachweisen, und Tropenstürme hat es immer schon gegeben. Doch als er im Abstand weniger Monate einen grönländischen Gletscher zwei Mal besuchte, erschrak er zutiefst: Die Landschaft hatte sich komplett verändert, nur durch eine eindeutige Bodenmarkierung war der Platz wiederzuerkennen, an dem Balog ein halbes Jahr zuvor fotografiert hatte. Muss das millionenfach zitierte indianische Sprichwort, das mit "Erst wenn der letzte Fisch gefangen, der letzte Baum gerodet ist" beginnt, erweitert werden auf "erst wenn das letzte Eis geschmolzen ist"?
Es ist ein Massensterben der Gletscher, das fernab medialer Aufmerksamkeit vor sich geht, aber auf die ganze Welt zurückwirkt: Die Auswirkungen des Klimawandels sind inzwischen schon so groß, dass sie innerhalb der Dauer eines Menschenlebens spürbar werden. Doch obwohl die Veränderungen mit freiem Auge zu erkennen sind, ist der Leidensdruck immer noch nicht groß genug, um Maßnahmen zu setzen. James Balog, begleitet vom Dokumentarfilmer Orlowski, beschloss, dieses Sterben sichtbar zu machen: 2007 begann er, Zeitrafferkameras in Island, Grönland und Alaska zu installieren, setzte mit der Arbeit seine Gesundheit und seine Karriere aufs Spiel und schuf atemberaubende Aufnahmen, die erstmals verdeutlichen, wie drastisch der Rückgang der Eisschilde ist. Gletscher, sagt Balog im Film, sind die Kanarienvögel in der globalen Kohlemine: Wenn sie zugrunde gehen, ist der Rest in akuter Gefahr.
"Chasing Ice" ist das Porträt eines Mannes und seines Projekts Extreme Ice Survey (EIS) in großartigen Bildern, die unter extremen Umständen entstanden sind: Über Monate waren Balog und Orlowski bei Temperaturen bis zu 30 Grad Celsius unter null unterwegs, kämpften gegen technische Widrigkeiten und Schneefuchs-Kabelfraß. Doch das Ergebnis ist alle Mühen wert: Im Rahmen von EIS ist es etwa erstmals gelungen aufzuzeichnen, wie vom grönländischen Ilulissat-Gletscher ein Eisberg von der Größe der Südspitze Manhattans abbricht, wie dabei Eismassen hoch in die Luft schießen und ins Meer kippen. Es ist eine Dynamik, die nicht mehr gestoppt werden kann.
Am "Earth Day" 2013 wurde "Chasing Ice" vor Präsident Obama gezeigt, nun kommt er in Österreich ins Kino. Wer ihn gesehen hat, kann nicht mehr behaupten, er hätte von nichts gewusst.
Kino: Chasing Ice. Dokumentarfilm, USA 2013. Regie: Jeff Orlowski. Mit James Balog. Start: 29. 11.