Dublin, Tallinn, Sevilla, Thessaloniki: In "Europe, She Loves" unternimmt der junge Schweizer Dokumentarist Jan Gassmann den Versuch, anhand von vier jungen Paaren, die sich in prekären Lebenssituationen befinden, das Europa der Gegenwart zu porträtieren.
SN: Wie entstand das Konzept zu diesem Film?
Jan Gassmann: Zu Beginn stand ein Gespräch mit einem anderen Regisseur, der mir gesagt hat: "Die Liebe kann man im Dokumentarfilm nicht zeigen." Das hat mir keine Ruhe gelassen. Die Liebe ist in der Musik, in jedem Spielfilm, die ist überall präsent - warum kommt die im Dokumentarfilm so selten vor? Das hat mich interessiert, und gleichzeitig die wirtschaftlichen Verwerfungen in Europa, diese ganzen Hintergrundreportagen über Menschen in der Krise. Ich wollte diese beiden Dinge verschränken, weil für mich das Politische gerade im Privaten stattfindet. Ich bin dann losgezogen, und habe mir unbekannte Städte ausgewählt, und dort nach Paaren gesucht. Ich wollte eine Mischung haben: Eine junge Liebe, eine junge Familie, bis hin zu einer Beziehung, die fast auseinanderbricht, verschiedene Etappen im Leben zwischen 20 und 30.
SN: Was diese vier Paare gemeinsam haben ist auch, dass sie Sie sehr nah heranlassen auch an sehr intime Dinge, vom Streit bis zum Sex. War das eine Bedingung?
Ja, schon auf dem Flyer, mit dem ich nach Paaren gesucht habe, stand auch drauf "wir sind alle nackt". Das hat dann, glaube ich, viel ermöglicht in Bezug auf Beziehungsgespräche.
Die Hürde war höher angelegt für sie, weil sie wussten, der körperliche Aspekt spielt auch ein Rolle in diesem Film. Ich wusste, wenn ich einen Film über eine Liebesbeziehung zeige und das Körperliche komplett weglasse, wäre das für mich zu sehr wie im Spielfilm, wo Sex dann oft durch die wehende Gardine im Gegenlicht angedeutet wird.
Das Körperliche hat ihnen ermöglicht, über das Persönliche zu sprechen. Ich war überrascht, dass da dann andere Hürden, die man sich vielleicht verbietet im Kopf, auf einmal weggefallen sind.
SN: "Europe, She Loves" ist auch ein Roadmovie quer durch Europa: Sie kommen am Weg zu Ihren Protagonisten vorbei an sehr unterschiedlichen historisch prägnanten Orten - am Wrack der Costa Concordia, an Auschwitz.
Wir sind wirklich den ganzen Weg mit dem Auto gefahren. Ich hatte ein paar feste Punkte, ich drehen wollte, und manches haben wir unterwegs gefunden. Die Bilder der Costa Concordia und von Auschwitz sind natürlich die explizitesten, manchmal war es auch ein Karren am Weg zu einer Kirche in Mazedonien. Für mich gehört das zum Versuch, eine Art Porträt von Europa zu schaffen, abseits von Großstädten. Wenn man an die Ränder von Europa geht, war für mich klar, dass man Europa auch anders zeigt. Man kennt diese Art von Bildern sehr gut aus amerikanischen Filmen, aber es ging kaum europäische Roadmovies, obwohl du hier fast von der Wüste bis in den Urwald fahren kannst, über die Berge und durch Steppen. Innerhalb Europa mit dem Auto unterwegs sein ist ganz etwas Besonderes. Für mich war das eine Offenbarung. Ich bin immer sehr viel gereist, aber ich bin draufgekommen dass ich Europa viel zu wenig kenne.
Film: Europe, She Loves. Schweiz / Deutschland 2016. Regie: Jan Gassmann. Start: 17. 6.