Irgendwann steht sie mitten auf dem Unicampus. Und sieht sich um und erkennt nichts. Obwohl sie hier jahrzehntelang gelehrt hat, obwohl ihre Laufstrecke sie mehrmals pro Woche über den Campus führt.
Im Film "Still Alice" spielt Julianne Moore eine tragische Heldin: Zuerst sind es noch alltägliche Aussetzer. Ein Name ist ihr entfallen, sie ist beim Wortequiz mit ihrer Tochter nur halb so gut wie früher. Der Neurologe, den sie um Rat fragt, nimmt ihren Fall ernst. Und stellt nach vielen Tests eine Diagnose: Alice ist zwar erst 50 Jahre alt, sie ist kognitive Psychologin, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Sprachentwicklung von Kindern, eine gesuchte Vortragende. Doch sie hat eine seltene Form von Alzheimer, die früh auftritt und weitervererbt wird. Der Verfall wird rasch gehen.
Wie geht eine Frau mit analytischem Geist und hellwachem Verstand mit einer solchen Diagnose um? Wie zerfällt ihr Alltag, trotz der Unterstützung ihres Ehemanns (Alec Baldwin) und dreier egozentrischer, aber liebevoller Kinder (Kristen Stewart, Kate Bosworth, Hunter Parrish)?
"Still Alice" beruht auf dem Roman "Mein Leben ohne Gestern" von der Neurowissenschafterin Liza Genova und ist eine behutsam erzählte, bedrückende Geschichte vom Verlust des Selbst. Julianne Moore hat für die Rolle der Professorin mit der Alzheimerdiagnose ihren ersten, lang verdienten Oscar bekommen. Ihre Alice wird allmählich von der mitreißend klugen, autonomen Frau zu einer Person mit immer kleinerem Handlungsradius, von der markanten Persönlichkeit zu einer Figur von fast durchsichtiger Qualität. Aus der selbstbewussten, redegewandten Professorin wird durch ihre Krankheit eine immer brüchigere Frau.
Mit klarem Blick und großer Trauer notiert sie selbst den Fortschritt ihrer Krankheit: "Es fühlt sich an, als würde mein Hirn absterben, und alles wofür ich gearbeitet habe, ist dahin", klagt Alice. Noch schlimmer ist ihr der Gedanke, dass sie die Krankheit womöglich an ihre Kinder weitergegeben hat. "Ich wünschte, ich hätte Krebs. Ich würde mich wenigstens nicht so schämen", sagt sie und bringt damit auf den Punkt, wie zwiespältig der Umgang mit neurologischen Erkrankungen ist: Sobald eine Person nicht mehr "sie selbst" ist, wird sie nicht mehr für voll genommen.
Um die unvermeidliche Entmündigung durch die Krankheit hinauszuzögern, nimmt Alice Videobotschaften mit Handlungsanweisungen für sich selbst auf, die sie auf ihrem Computer speichert. Noch schwebt ihr ein selbstbestimmtes Ende vor. Smartphone und Internet sind ihr lange Zeit wichtige Krücken. Doch "gerade bei hoch ausgebildeten Menschen scheint der Krankheitsverlauf schneller zu gehen, weil sie den Gedächtnisverlust lang kompensieren können", sagt ihr Neurologe. Alice muss nun ein Armband tragen: "Gedächtnisbeeinträchtigt", falls sie wieder auf dem Campus verloren geht.
Ausgerechnet ihre jüngste Tochter Lydia, mit der Alice bisher ständig Konflikte hatte, weil Lydia dem irrealen Traum einer Schauspielkarriere nachhängt (Kristen Stewart in ihrer womöglich bisher besten Rolle) wird nun die wichtigste Person für Alice. Sie kann, trotz ihrer Rauheit die größte Nähe zur Mutter herstellen, sie begegnet ihr weiterhin auf Augenhöhe. Und dann, wenn die Innensicht von Alice nicht mehr funktioniert, weil sie sich selbst verloren hat, wechselt die Perspektive des Films zur Tochter, die zuhört und nachfragt und nicht hinter zarten Worten verbirgt, was die harsche Wahrheit ist. Ihr gehört der tröstlichste Satz im Film, ein Energieerhaltungssatz für Seelen: "Nichts ist für immer verloren."
Film: Still Alice. Drama, USA 2014. Regie: R. Glatzer, W. Westmoreland. Mit Julianne Moore, Alec Baldwin, Kristen Stewart. Start: 13. 3.