Auf dem Smartphone und im Computerspiel, auf YouTube, Instagram und TikTok, beim Joggen und beim Busfahren: Musik liefert im Alltag eine dauernde Begleitung. Zugleich hat die Lust auf Livekonzerte in den vergangenen Jahren einen deutlichen Dämpfer erhalten. Was bedeutet die Menge an verfügbaren Klängen für die Beziehung zu Werken und Stars? Für die Internetgeneration habe sich der Stellenwert von Musik stark verändert, sagt der Musiksoziologe Michael Huber im Interview.
Leben wir in einer Zeit des Musik-Überflusses? Michael Huber: Es ist sicher so, dass wir heute ein enormes Überangebot an Musik haben. Mit einem Smartphone, mit Streamingdiensten oder Social-Media-Plattformen sind die Möglichkeiten, immer und überall Musik zu hören, gleichsam unbegrenzt.
Kürzlich hat der Internationale Verband der Musikwirtschaft (IFPI) eine globale Studie vorgelegt, aus der hervorgeht, dass wir wöchentlich 20,1 Stunden Musik hören. Musikkonsum ist also bereits eine Halbtagsbeschäftigung? Das wären drei Stunden täglich, ja. Dazu muss man freilich sagen, dass es verschiedene Hörtypen gibt, die auf unterschiedlichen Wegen unterschiedlich viel Musik konsumieren (Basis der erwähnten Studie war die Onlinebevölkerung aus 22 Ländern zwischen 16 und 64 Jahren, Anm.). Aber dem Grundbefund würde ich schon zustimmen: Die Zeit, die wir mit täglichem Musikhören verbringen, wird für die meisten von uns immer mehr.
Was bedeutet das große Angebot für die Art, wie wir Musik wahrnehmen? Mit der Digitalisierung hat gleichsam eine Umkehrung unseres Zugangs zur Musik begonnen. Vor der Internetära war die Ausgangslage ein Mangel: Als Fan machte man sich aktiv auf die Suche nach neuer Musik. Jetzt gibt es einen ständigen Strom an Angeboten, aus denen wir uns herausfischen, was für uns relevant ist. Und für junge Menschen hat Musik durch die Digitalisierung ohnehin einen ganz anderen Stellenwert bekommen als für die Generationen davor.
Inwiefern? Sie ist nicht mehr Selbstzweck, sondern wird eher dem Anlass entsprechend ausgesucht: zum Sport, zu einer bestimmten Tätigkeit, einer Stimmung oder um auf Social Media Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn Musik aber nicht primär um ihrer selbst willen gehört wird, geht es zugleich nicht mehr so stark um eine Identifikation mit einzelnen Stilen, Künstlerinnen und Künstlern oder Werken. Musik begleitet den Alltag, weil es via Smartphone einfach möglich ist.
Die berühmten musikalischen Entscheidungsfragen wie "Beatles oder Stones?" und " Prince oder Michael Jackson?", mit denen Musikfans früher Flagge zeigten, stellen sich also gar nicht mehr? Nein, weil mit Musik nicht mehr automatisch eine Werthaltung verbunden ist. Diese Identifikation findet nicht mehr so stark statt, weil es zum einen eben zu viel Verschiedenes gibt, aber auch, weil Musik nicht mehr unbedingt für eine bestimmte Lebenseinstellung oder ein politisches Bewusstsein steht, sondern etwas Alltägliches ist.
In Ihren Studien zum Musikverhalten in Österreich gab vor einigen Jahren erst ein Drittel der Befragten an, Musik online zu hören. Wie schnell ist der Wandel seither weitergegangen? Aus aktuellen Studien wissen wir, dass weniger als die Hälfte der Bevölkerung über Musikstreaming erreichbar ist. Das Stadt-Land-Gefälle ist in Österreich nach wie vor groß, Alter und Größe des Wohnorts sind große Einflussfaktoren, ob Musik via Internet, als Tonträger oder doch vor allem über Radio und TV konsumiert wird. Die Internetanbindung ist mittlerweile aber auch in vielen ländlichen Regionen sehr gut, das wirkt sich auf die Entwicklung des Hörverhaltens aus.
Ist die Digitalisierung für die Musik ein ähnlich einschneidender Schritt wie etwa die Erfindung der Tonträger im 19. Jahrhundert? Sie ist sicher einer der ganz großen Schritte, die zu einer Demokratisierung des Musikhörens geführt haben. Wenn wir in der Musikgeschichte weit zurückschauen, musste ich anfangs zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein, um eine bestimmte Musik hören zu können. Mit dem Notendruck und der Möglichkeit, Werke etwa am eigenen Klavier so oft aufzuführen, wie man will, wurde das Musikerlebnis zunächst von der Zeit entkoppelt. Mit Schallplatte und Rundfunk wurde Musik unabhängig von einer Liveaufführung hörbar. Jetzt, mit Internet und Smartphones, funktioniert das Hören nicht nur orts- und zeitunabhängig. Wir haben auch immer und überall dieses immense Angebot. Das ist schon eine radikale Umkehrung von dieser Situation des Mangels zum Überfluss.
In der Anfangsphase der Digitalisierung gab es auch einen großen Gegentrend: Während die Songs im Netz verschwanden, wuchs zugleich die Nachfrage nach dem greifbaren Liveerlebnis. Derzeit klagen aber viele Veranstalter über ausbleibendes Publikum. Sind das vor allem die Nachwirkungen der Pandemie? Diese Entwicklung hat mehrere Gründe und Corona war ein Verstärker. Aktuell haben Konzertbesucherinnen und -besucher oft auch weniger Budget zur Verfügung, um Karten zu kaufen, weil Energiepreise und Inflation den Spielraum verringern. Zugleich haben sich manche während der Pandemie ein bisschen daran gewöhnt, zu Hause zu bleiben, weil es eben viele Angebote gibt, für die ich das Sofa nicht verlassen muss. Auch Streamingserien können da in Konkurrenz zum Konzert treten.
Ein weiterer Faktor sind die Corona-Ungewissheiten: Viele kaufen Karten nicht mehr ein Jahr im Voraus, ohne zu wissen, wie die Situation dann sein könnte, sondern lieber kurzfristiger. Damit steigt für Veranstalter aber wieder das Risiko, Konzerte absagen zu müssen, weil sie schwer zu kalkulieren sind.
Und umgekehrt ist es gerade bei Konzerten internationaler Stars einfach so, dass die Karten immer teurer werden. Der Live-Weltmarkt wird von zwei, drei börsenotierten Anbietern dominiert, denen es eben um maximale Gewinne geht.
Für Konzertbesuche gilt der Überfluss also nur bedingt? Viele dieser Faktoren führen derzeit zu einer stärkeren Verdrängung: Vor allem Jugendliche gehen, wenn das verfügbare Geld begrenzt ist, vielleicht dann nicht mehr regelmäßig in einen Club, sondern nur noch ein Mal im Jahr auf ein Festival, mit dem sie wiederum mehr als ein reines Musikerlebnis verbinden, und vielleicht auf eines der zugkräftigen Megakonzerte. Für kleinere Veranstalter und Bands ist das eine schwierige Situation.
Trotzdem bietet das Konzert einen großen Mehrwert gegenüber dem Liveclip, den ich auf YouTube sehen kann. Konzerte werden also wichtig bleiben, um außeralltägliche Musikerlebnisse zu haben. Aber ein schmaleres Budget zwingt zu strengeren Entscheidungen.
Insgesamt könnte die Kurve unseres Musikkonsums 2023 also weiter ansteigen? Ich sehe nicht, dass die Entwicklung so schnell enden könnte. Es ist ja nicht nur so, dass täglich neue Musik veröffentlicht wird. Zusätzlich bleibt auch fast alles, was je zuvor veröffentlicht wurde, immer und überall abrufbar. Die Grenze ist nur noch die Zeit, die wir haben, um Musik zu hören.
Zur Person:
Michael Huber ist stv. Leiter des Instituts für Musiksoziologie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zu seinen Schwerpunkten zählen die Musikrezeption in der digitalen Mediamorphose und die Strukturen des Musiklebens in Österreich.