Zwei Töne, zwei Schattierungen. Der Beginn einer melancholischen Melodie? Hebungen und Senkungen eines Gedichts? Ein Rückblick auf ein ganzes Leben? In Ivo Pogorelichs Welt stellt notierte Musik ein Angebot dar, seine Interpretation gilt stets der Suche nach dem Wesentlichen zwischen den (Noten-)Zeilen. Den Beginn von Frédéric Chopins c-Moll-Nocturne, op. 48, dehnt der Pianist zunächst zu einem endlos weiten Rezitativ aus, um die Melodiestimme später in einem quälenden Stahlbad aus Triolen zu versenken. Wie ein Schub erfasst die Emotion den Erzähler, der Hörer bleibt ob solch unverstellter Wahrhaftigkeit erschüttert zurück.
Lange musste man darauf warten, bis der große Exzentriker unter den Pianisten wieder bleibende Dokumente seiner Kunst erzeugte. 2019 erschien Pogorelichs erste Studio-Einspielung seit 21 Jahren. Die darauf enthaltene Interpretation der b-Moll-Sonate von Sergei Rachmaninow elektrisierte in ihrer kühnen Entzerrung des Notendickichts. Die Live-Interpretation dieses Werks im Festspielsommer 2005 hatte noch heiße Diskussionen entfacht. Das Konzert unter akustisch wie atmosphärisch widrigen Bedingungen in der Felsenreitschule blieb bis heute das letzte des Pianisten in Salzburg. Im Programm fand sich auch Chopins h-Moll-Sonate, op. 58, die buchstäblich bis ins Unfassbare gedehnt wurde.
Auf Ivo Pogorelichs aktueller Chopin-Einspielung wirkt seine Sicht auf das Werk weniger radikal, strukturbetonter, auch wenn er sich immer wieder große Freiheiten nimmt. Anders als Grigory Sokolov - der sich für seine Interpretation der h-Moll-Sonate ebenfalls viel Zeit nahm - behält er das Tempo einer Passage nicht in zwingendem Spielfluss bei, sondern fokussiert mit seinen Vollbremsungen einem Kamerazoom gleich auf ein Detail und zieht mit ebenso unvermittelter Beschleunigung wieder in die Totale auf. Pogorelichs Kunst gilt dem Moment, er interessiert sich folglich auch nicht für strukturelle Gewichtung des Kopfsatzes und verzichtet auf eine Wiederholung der Exposition.
Die Rahmenteile im Scherzo gestaltet der Pianist wie Verwandte des enigmatischen Finalsatzes aus Chopins b-Moll-Sonate: keine Form, Struktur oder Motivik, nur rauschhafter Klang. Wie sanft wiegt dagegen das Trio, eine zeitfreie Meditation über die Schönheit, die das berührende Largo vorwegnimmt.
Chopins Spätwerk eignet sich für diese Grenzgänge. Das Fantastische dominiert sowohl die kleinen Charakterstücke als auch die große Form, zu der man auch die f-Moll-Fantasie, op. 49, zählen muss. Auch hier lotet er dynamische Kontraste in ihren Extremwerten aus, meißelt weite Teile des Stücks mit ultratrockener Härte aus dem Flügel, um dazwischen das Lento wie eine Insel voll traumversunkener Poesie auszubreiten. Die Welt braucht solche Freigeister heute mehr denn je.
Album: "Chopin", Ivo Pogorelich.
Erschienen auf Sony Classical.