Jeden Samstag um halb acht startet der klapprige Kleinbus im Sarajevoer Vorort Ilidža. Hinter der Windschutzscheibe stapeln sich abenteuerlich Paletten mit Eiern. Das Radio spielt Balkan-Folk, der Busfahrer wirft den verwaisten Hunden am Straßenrand Bäckereireste zu, und ein Junge muss sich bei dem wilden Geschaukel schon nach den ersten Serpentinen übergeben. Am Straßenrand ziehen Wälder und Reminiszenzen aus Bosniens jüngster Vergangenheit vorbei: zerschossene Häuser und Minenwarntafeln aus den Kriegen von 1992 bis 1995. Bald nach den Ruinen der Olympischen Winterspiele von 1984, 1200 Meter über dem Meeresspiegel, zweigt der Weg nach Lukomir ab.
Zwölf Kilometer lang windet sich die Schotterpiste durch ein weites Tal voller Krater und Buckel, durch Dugo Polje, das "Lange Feld". Der karge Grund lässt fast nur Gräser und Disteln gedeihen. In der Ferne kläffen Hütehunde, und über die sanft abfallenden Hänge ziehen Wolkenschwaden herab. Kreise, Häufchen und Mäuerchen aus Steinen zeugen von Jahrhunderte währenden Mühen der Schäfer: Durch das Aufsammeln spross das Gras ein wenig üppiger und im Schutz der Steine ruhten die Hirten nachts mit ihrem Vieh.
In Lukomir, dem "Hafen des Friedens", endet die Schotterpiste. Rot-rostiges Blech und wettergebleichte Kirschholzschindeln bedecken die 70 großen und kleinen Steinhäuser. Einige sind schon vor längerer Zeit zusammengesackt, vor anderen dampft noch frischer Dung. Zwei Burschen treiben Schafe auf die Weiden, Frauen mit bestickten Hauben häkeln Socken, hacken Holz und führen Kühe zur Tränke. Nur die Strommasten und die verrostete Karosserie eines Zastava passen nicht ganz in das Bild von einer eigentlich seit Jahrhunderten vergangenen Zeit.
Tatsächlich aber stammen so manche Hausfundamente noch aus Mittelalter und Früher Neuzeit. Am Hang hinterließen die ersten Siedler damals, vor etwa 500 Jahren, für ihre Toten monumentale Grabsteine, die "Stećci". Dahinter fällt der Hang 800 Meter steil zum Flüsschen Rakitnica ab. Lediglich Schafstritte hoch über der Schlucht führen von hier aus weiter.
Das Bjelašnica-Massiv und Dörfer wie Lukomir zählen zu den Refugien der letzten Pastoralisten Europas. Die Bewohner betreiben Wanderweidewirtschaft, Transhumanz, wie einst allgemein üblich bei den Almhirten in den Alpen. Von November bis April, wenn Schnee und Schlamm die Schotterpiste unter sich begraben, haben die meisten sich mitsamt ihren Tieren in die Dörfer und Städte am Fuße des Berges zurückgezogen. Immer weniger kehren im Frühjahr wieder zurück.
Die Zukunft der Schäferdörfer auf dem Bjelašnica ist ungewiss. "Lukomir und die anderen Hirtendörfer sterben schleichend", sagt Hamo aus dem benachbarten Gradina. 155 Einwohner hatte Lukomir 1991, rund 80 sind es noch heute. In Gradina waren es 1996 noch 20 Familien, sechs seien verblieben. Fast nur die Alten leben das ganze Jahr über in den Bergen. Die Jungen kommen übers Wochenende oder während der Schulferien.
Als 2004 die Schotterpiste gebaut wurde, sah es eine Weile so aus, als könnte der Tourismus das Sterben der Dörfer aufhalten. In Lukomir entstand eine Pension. Die ist inzwischen aber wieder geschlossen. Mehr als zwei, drei Gruppen auf Tagestour sieht das entlegene Dorf selten. Ein rustikales Kaffeehaus und einige über Zäune gehängte, selbst gestrickte Wollsocken sind die einzigen noch verbliebenen touristischen Angebote vor Ort.
Wenn sie eine Pension oder irgendeine andere Zuwendung bekäme, sagt Hamos Nachbarin, dann würde sie wohl das ganze Jahr in Sarajevo leben. So aber haust sie hier von April bis September mit ihrer Kuh und zwölf Hühnern, wäscht per Hand, schwatzt mit den Nachbarinnen. "Außer Schafen und Natur gibt es hier oben nichts", sagt Hamo. Für die Jungen ist das zu wenig - den verarmten Alten aber ist das eine Existenz.
Leider aber könnten ein paar verkaufte Socken das Dorfsterben auf Dauer nicht aufhalten, brummt der Alte. Vielleicht investiert jemand in neue Herden, vielleicht wird das Bjelašnica-Massiv ja auch ein Naturreservat, oder ein Liebhaber kauft gleich das ganze Dorf. Die hochtrabenden Pläne saudischer Immobilienmoguln, ganze Landstriche in Freizeitparks zu verwandeln, seien glücklicherweise Papiertiger geblieben. Immerhin. Ein Aufschub für einen verwunschenen Landstrich, der noch lange nicht in der Gegenwart angekommen ist.