Leserbrief

Die Gesellschaft nach Corona

Corona war das bestimmende Ereignis des Jahres 2020. Es sollte aber angesichts der hingenommenen Zustände in den Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen auch als Jahr der Schande für das reiche Europa in Erinnerung bleiben. Das über Berichte von Hilfsorganisationen und Medienbilder vermittelte Leid der aus Kriegswirren und Not geflüchteten Frauen, Männern und Kindern in den griechischen Flüchtlingslagern zeigte uns zugespitzt - es kam ja Weihnachten, das Fest der Liebe - die Verdrängungsleistung, die wir angesichts des Auseinanderklaffens von Arm und Reich in der Welt seit vielen Jahrzehnten vollbringen. Es gab auch in Österreich namhafte Stimmen, die sich für eine Aufnahme von Geflüchteten einsetzten - der Bundespräsident, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, humanitäre Organisationen.

Doch die zynische Haltung jener, die vor einem Dammbruch warnten, würden wir die Grenzen für die Notleidenden öffnen, behielten die Oberhand. Dabei hätte die Demokratie gerade in dieser Frage ihre Stärke zeigen können. Das Abstimmungsverhalten im Parlament wird weder von einem Regierungsübereinkommen noch von einem Klubzwang festgeschrieben - die Abgeordneten entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen.

Wie schön wäre es gewesen, wenn jene in der österreichischen Volkspartei, die den Kurs ihres Kanzlers nicht gutgeheißen haben, für den Aufnahmeantrag gestimmt hätten. Wie notwendig wäre es gewesen, wenn die grünen Abgeordneten ihrem Gewissen, nicht dem Koalitionskalkül gefolgt wären. Die Aufnahme von Flüchtlingsfamilien allein durch Österreich hätte das Problem natürlich nicht gelöst - die Evakuierung aller Flüchtlinge von Lesbos wäre Aufgabe der Staatengemeinschaft -, wir hätten aber ein Zeichen setzen können. Generell liegt das Problem freilich tiefer.

Tagtäglich halten wir aus, dass Unsummen für Militär und Rüstung ausgegeben werden, dass die einen immer mehr Reichtümer anhäufen, während andere verhungern oder an durchaus heilbaren Krankheiten sterben, nur weil die nötigen Nahrungsmittel bzw. Medikamente fehlen. Um uns daran nicht länger mitschuldig zu machen, müssen wir dieses Unrecht viel lauter anprangern und zugleich unser Wirtschafts- und Konsummodell viel stärker in Frage stellen. Wir würden dabei auch im eigenen Interesse handeln.

Denn 2020 ist auch der Beginn jenes Jahrzehnts, in dem sich entscheiden wird, ob die Einbremsung des Klimawandels auf ein noch verträgliches Maß gelingt oder nicht. Für diesen Wandel, der neue Technologien keineswegs ausschließt, brauchen wir nicht nur mehr mutiges Engagement, sondern auch mehr Moral in unserem Wirtschaften.


Mag. Hans Holzinger, Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, 5020 Salzburg

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