Leserbrief

"Europa der Nationalstaaten" ist zurück gekehrt


Die Politik hat in der Corona-Pandemie sicher Schlimmeres verhindert; Schlimmes leider nicht. Zu den schweren persönlichen, gesellschaftlichen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen kommt politisch der Shutdown Europas, der sich schon in der Flüchtlingskrise gezeigt und jetzt weiter verstärkt hat. Die nationale Abschottung und das Herablassen von eigentlich schon lange beseitigten Grenzschranken waren vielleicht eine kurzfristig notwendige Maßnahmen. Ihre ständige Verlängerung ohne Prüfung von Alternativen, ohne Konsequenzen aus den veränderten Infektionssituationen und mit sachfremden Argumenten wie der Förderung des Tourismus im eigenen Land haben aus dem nicht nur von Bayern und Salzburg so geförderten dynamischen "Europa der Regionen" ein überwunden geglaubtes "Europa der Nationalstaaten" gemacht. Die bevorstehende Wiederöffnung der Grenzen kommt einfach zu spät.
Wenn man Jahrzehnte lang seinen kleinen Beitrag zu einem freundnachbarschaftlichen Verhältnis der Menschen, Regionen und Staaten in Europa zu leisten versucht hat, kann man nur mit Entsetzen in nicht nur marginalen Teilen der Gesellschaft den Rückkehr der Nationalismen, der abwertenden Stereotypen und der fremdenfeindlichen Vorurteile zur Kenntnis nehmen. Aus dem Fehlverhalten Einzelner wird die Verurteilung ganz Tirols oder ganz Österreichs, die Franzosen sind schmutzig und sollen draußen bleiben, das mit Italien "ist typisch italienisch". Gerade jene Politiker, die in den letzten Jahren immer wieder - und mit Recht - den "Egoismus" einzelner europäischer Staaten kritisiert haben, sind verpflichtet, jetzt alles zu tun, um zu verhindern, dass Corona unser "Haus Europa" noch mehr infiziert.
Medizinisch wird das Corona-Virus in absehbarer Zeit besiegt werden. Ob das coronainfizierte "Haus Europa" zu neuer Stabilität, zu offenen Türen und zur "Solidarität der Tat" (Robert Schumann, 1950) zurückfindet, kann man nur hoffen. Befürchten muss man, dass die Flüchtlingskrise und die Coronakrise zumindest für die älteren Menschen der so genannten "Risikogruppe" jene Folge haben, die der britische Außenminister Edward Grey meinte, als er Anfang August 1914 formulierte: "The lamps are going out all over Europe; we shall not see them lit again in our lifetime!". Frei und mit dem Blick auf Corona übersetzt: "Die Lichter Europas erlöschen; in unserem Leben werden wir sie nicht wieder leuchten sehen."


Prof. Dr. Hermann Rumschöttel, D-85579 Neubiberg und A-5570 Mauterndorf

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