Da hatten wir uns endlich an R gewöhnt als ein Maß der Dinge. Als einen Wert, dessen Sinken eine ganze Republik ersehnt. Neben der Zahl erfasster Neuinfektionen, der Sterberate und der Verdopplungszeit stand zuletzt die sogenannte Reproduktionszahl R im Fokus, wenn es um Fragen ging wie: Bringen die Gegenmaßnahmen was? Können wir lockern? Doch es wird deutlich: R ist nicht gleich R.
Für die Schätzung von R gibt es Änderungen im Detail, wie gerade erst vom Robert Koch-Institut (RKI) vorgenommen. Es gibt aber auch völlig unterschiedliche Ansätze zur Berechnung, die zu sehr abweichenden Werten führen können. Aufgefallen war das Anfang der Woche, als CSU-Chef Markus Söder nach einer Parteivorstandssitzung R für Bayern mit 0,57 bezifferte. FDP-Landtagsfraktionschef Martin Hagen forderte unter anderem auf dieser Grundlage eine deutliche Lockerung der Ausgangsbeschränkungen. Doch die Zahl passte nicht so recht zu dem vom RKI genannten bundesweiten Wert von etwa 0,9.
Es gibt unterschiedliche Verfahren
Die Ursache: Söders R von 0,57 hat eine ganz andere Grundlage. Ein Sprecher des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) erläutert dazu auf Anfrage: Nach einem Ansatz des Helmholtz-Zentrums für Infektiologie (HIZ) in Braunschweig und der Ludwig-Maximilians-Universität München werde R infektionsepidemiologisch anhand typischer Krankheitsverläufe modelliert. Das RKI berechne R hingegen statistisch als geschätzten Trend auf Basis unter anderem eines sogenannten Nowcastings, das Diagnose-, Melde- und Übermittlungsverzug berücksichtigen soll. Grundlage dieses Verfahrens sei das in den Meldungen angegebene Erkrankungsdatum - das liegt etwa zwei Wochen früher.
Beide Verfahren haben somit einen unterschiedlichen Schwerpunkt, wie der LGL-Sprecher deutlich macht: Im ersten Fall geht es um das Melde- und Übermittlungsgeschehen, im zweiten um das vermutliche Erkrankungsgeschehen. Ein konkretes Beispiel: Für Bayern schätzte das RKI den Angaben zufolge am Sonntag die Reproduktionszahl (mit Stand 22. April) auf 0,9. Das HIZ aber berechnete R mit 0,57 (Datenstand: 23. April) - jenem Wert, den Söder später verkündete.
Beide Werte würden beobachtet und verwendet, so der LGL-Sprecher. Die meisten, wenn nicht gar alle anderen Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Berlin veröffentlichen nach eigenen Angaben stets die nach RKI-Methode ermittelten Zahlen.
Je niedriger, desto besser
Grundsätzlich ist die Reproduktionszahl R einer der zentralen Werte zur Beurteilung des Verlaufs einer Infektionswelle. Sie gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter in einem bestimmten Zeitraum im Durchschnitt ansteckt. Je niedriger R ist, desto besser. Liegt R unter 1, steckt ein Infizierter im Schnitt weniger als einen anderen Menschen an - und die Epidemie läuft aus. Liegt R über 1, steckt ein Infizierter im Mittel mehr als einen anderen Menschen an - die Zahl der täglichen Neuinfektionen wird größer.
Laut dem RKI lag die Kennziffer Anfang März noch bei 3, zu Wochenbeginn bei 0,9 bis 1, jeweils mit einer gewissen Schwankungsbreite. Dann aber hat die Behörde für Infektionskrankheiten an der Formel zur Ermittlung der Ansteckungsrate leichte Änderungen vorgenommen. R lag danach im RKI-Lagebericht vom Mittwoch nur noch bei 0,75 (Datenstand 29. April, 0.00 Uhr), am Donnerstag dann bei 0,76.
Der Sprung vom Mittwoch habe aber nichts mit der neuen Erhebungsgrundlage zu tun, beteuern RKI-Chef Lothar Wieler und ein extra herbeigerufener R-Experte am Donnerstag in einer Pressekonferenz zur Corona-Lage. Die Datenbasis für die Schätzung von R sei geändert worden, was den Kurvenverlauf zwar "glätte" und die Berechnung von R vereinfache. Im Ergebnis ändere sich aber nichts. Nachfragen von Journalisten zeugen von Skepsis und Erklärbedarf. Bis Wieler schließlich sagt, es handle sich um ein "Pressebriefing, kein Mathematikseminar".
Die Zahl kann stark schwanken
Passend dazu veröffentlichen Statistikexperten eine "Unstatistik des Monats". Damit wollen die Forscher auf mögliche Fehlschlüsse beim Interpretieren von Daten aufmerksam machen. Zu R schreiben sie, dass die Zahl der in die Ermittlung einbezogenen Neuerkrankungen stark schwanken kann. "Deshalb handelt es sich bei der Reproduktionszahl um eine Schätzung mit einem nicht unerheblichen Schätzfehler, der bei der Bewertung der aktuellen Lage immer berücksichtigt werden muss." Ebenso müssten die Dunkelziffer bei den Infektionen und sich ändernde Testkapazitäten berücksichtigt werden.
Die Verfasser kommen zu dem Schluss: "So bedeutsam die Reproduktionszahl für die Einschätzung des Verlaufs der derzeitigen Pandemie auch ist, so vorsichtig sollte sie daher interpretiert werden." Vor allem eigne sich R "aufgrund der nach wie vor mangelhaften Datengrundlage nicht als zentrale oder gar einzige Entscheidungsgrundlage für die schwierige Frage, ob die derzeitigen Kontaktbeschränkungen gelockert werden können oder nicht".
Das alles kann verwirren. Nicht zuletzt deshalb, weil Hintergründe der jeweils zugrundeliegenden Berechnung in der Regel nicht bei der Bekanntgabe von Werten mitkommuniziert werden. Ähnlich wie bei vielen Corona-Daten - etwa wegen zeitverzögerter Datenübermittlung und Dunkelziffern - gilt auch hier: So lieb der eine oder andere R vielleicht gewonnen hat, sollte man auch diesen Wert mit Vorsicht betrachten und sich klarmachen, dass es so einfach eben nicht ist, die aktuelle Infektionslage einzuschätzen und klar abzubilden.