Der sportliche Julius Imber strotzt vor Gesundheit. Niemand würde dem schlanken 15-Jährigen ansehen, dass er schon eine lange, schmerzhafte Leidensgeschichte hinter sich hat. Seit er drei Jahre alt ist. "Ich hatte immer Schmerzen nach dem Essen", sagt der Jugendliche. "Seit drei Jahren habe ich einen Dauerschmerz im Bauch, Tag und Nacht - vermutlich nach einem Parasitenbefall", sagt Julius. Manchmal sei er aufgebläht wie bei einem "Bierbauch". Der Gang auf die Toilette bringe nur wenig Erleichterung.
Julius konnte deshalb oft nicht in die Schule gehen und auch weniger Sport treiben, der ihm sehr wichtig ist - vor allem Golf und Tennis. Auch der Kontakt zu seinen Freunden wurde dadurch beeinträchtigt.
So musste Julius schon früh von Arzt zu Ärztin tingeln. Viele Abklärungen waren die Folge: mit Ultraschall, Röntgen, Laboranalysen oder Magen-Darm-Spiegelungen. Gefunden wurde nichts. Man vermutete Reizdarm, Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder Lebensmittelallergien. Keine Therapie half. Julius müsse damit leben, hieß es.
Doch sein Vater ließ nicht locker und machte sich auf die Suche nach einem Spezialisten für Darmflora. Er war überzeugt, dass die Beschwerden etwas mit den Darmbakterien zu tun haben. Schließlich fanden die beiden vor gut einem Jahr einen Gastroenterologen in Zürich, der die Krankheit festmachen konnte: eine bakterielle Überwucherung und Fehlbesiedlung des Dünndarms - kurz Sibo (für Small intestinal bacterial overgrowth). "Es ist ein relativ häufiges Krankheitsbild", sagt Gastroenterologe Stephan Vavricka. "Sibo ist jedoch nicht leicht zu diagnostizieren und bleibt deshalb oft unentdeckt."
Wie viele Menschen genau betroffen sind, ist unklar. Man geht aber davon aus, dass fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung in irgendeiner Form daran leiden. Darunter laut Vavricka auch rund die Hälfte aller Reizdarmpatientinnen und -patienten, die gemäß Studien gar nicht einen Reizdarm haben, sondern Sibo. Jede zehnte Person erhält die Diagnose Reizdarm.
Die typischen Symptome treten meist zwischen 20 und 90 Minuten nach dem Essen auf: Blähungen, Bauchschmerzen, vermehrte Luftbildung - "Ich fühle mich, also ob ich im neunten Monat schwanger wäre", sagen Patientinnen. "Häufiges Rülpsen und Furzen", darüber berichten eher die Männer. Manchmal gehört auch verstärkter Stuhldrang unmittelbar nach dem Essen dazu, manchmal verbunden mit Durchfall oder Verstopfung.
Sibo kann aber auch Probleme außerhalb des Magen-Darm-Traktes machen - etwa Müdigkeit, Abgeschlagenheit oder Konzentrationsschwierigkeiten. Ein Teil der Patientinnen und Patienten spricht auch von "Watte im Kopf". Hinzu kommt, dass SIBO auch andere Krankheiten imitieren kann, etwa Reizdarm, Lebensmittelunverträglichkeiten, Getreideunverträglichkeiten, Histaminintoleranz. Da die Krankheit so verschieden daherkommt, nennt man sie "Chamäleon der Medizin".
Die Ursachen von Sibo, woran Menschen allen Alters erkranken können, liegen teilweise noch im Dunkeln. Sie entsteht auch als Begleiterkrankung anderer Krankheiten wie Diabetes, Rheuma oder Lebererkrankungen. Sibo tritt zudem häufig auf nach einer Lebensmittelvergiftung, starken Infektionen, Unfällen oder nach Operationen. Sibo wird diagnostiziert, sobald es die typischen Beschwerden wie Blähungen, Bauchschmerzen oder Durchfall gibt sowie eine bestimmte Bakterienanzahl im Dünndarm überschritten ist. Mit zwei Methoden kann dies festgestellt werden: einem Atemtest oder einer Magenspiegelung. Der Atemtest dient dem Nachweis von Gasen wie Wasserstoff und Methan, die auf eine Gasbildung aufgrund von Bakterien im Dünndarm schließen lassen. Der Atemtest wird bevorzugt, da er weniger aufwendig und belastend ist als eine Magenspiegelung, allerdings ist er weniger genau. Mit der Magenspiegelung entnimmt man Saft im oberen Dünndarm, um die Bakterienmenge zu bestimmen.
Bei Julius erfolgte der Nachweis mithilfe einer Magenspiegelung. Julius erhielt danach die bei Sibo empfohlene Behandlung: zwei Wochen lang ein gezieltes Antibiotikum. Bei rund zwei Dritteln der Patientinnen und Patienten wirkt diese Therapie langfristig.
Trotz recht guten Erfolgs gibt es aber auch kritische Stimmen zu Antibiotika bei der "Lifestyle"-Krankheit Sibo, wonach diese übertrieben seien und Resistenzen förderten. Vavricka gibt zu bedenken: "Auf der anderen Seite gibt es Patienten, die sehr leiden, und sehr froh um diese Therapie sind."
Bei rund einem Drittel der Sibo-Betroffenen greift die Antibiotika-Therapie nicht oder nur vorübergehend. Hier kommen in einem zweiten Behandlungsschritt Pflanzen mit antibakterieller Wirkung zum Einsatz. "Aber nur in Begleitung einer auf Sibo spezialisierten Ernährungsberaterin", sagt Vavricka.
Solche pflanzliche Mittel benötigte auch Julius, bei dem die Beschwerden teilweise zurückkehrten. Julius begann mit der Sibo-Therapie bei einer Ernährungsberaterin. Als Pflanzen mit antibakterieller Wirkung gelten etwa Berberin, Oregano, Thymian, Anis, Knoblauch, Zimt oder Neem. "Diese Extrakte können jedoch genauso wie Medikamente Nebenwirkungen haben", erklärt die auf Sibo spezialisierte Ernährungsberaterin Martina Heierle. Eine solche Therapie müsse deshalb gut begleitet sein.
Die meisten Patientinnen und Patienten müssen laut Heierle geduldig sein und einige Behandlungsschritte mehrfach durchlaufen, bis sie endlich beschwerdearm oder beschwerdefrei werden. Häufig muss die Darmschleimhaut aufgebaut und immer wenn möglich bekannte Ursachen und auslösende Faktoren mitbehandelt werden. Das heißt, die Dauermedikation überprüfen, die Darmtätigkeit ankurbeln, Parasiten behandeln und Verdauungssäfte erhöhen.
Für Julius hat sich die Situation kontinuierlich verbessert. "Ich habe deutlich weniger häufig Schmerzen - vor allem nachts."
Was können Betroffene tun?
Eine bakterielle Dünndarm-Fehlbesiedlung (SIBO) entsteht nicht nur allein "durch höhere Gewalt" wie Krankheit, Unfall oder Operation, sondern kann auch durch eigenes Zutun gefördert werden - durch Stress oder durch eine ungesunde Ernährungs- und Lebensweise. So lohnt es sich etwa die eigene Lebensweise genauer anzuschauen und nach Optimierungsmöglichkeiten zu suchen.
Es gibt allerdings keine "SIBO-Diät": Je nach SIBO-Art werden diverse Nahrungsmittel vertragen oder nicht. Das kann von Tag zu Tag variieren und kann nur schwer abgeschätzt werden. Deshalb sture Dogmen bzw. Darmempfehlungen meiden und auf das Bauchgefühl hören.
Probiotika (lebende Bakterien) und Präbiotika (Nahrung für Bakterien) sollten am Anfang der SIBO-Therapie nicht verwendet werden. Auch Snacks, Zwischenmahlzeiten, Süßgetränke oder Alkohol sollten weniger häufig konsumiert werden. Dafür bietet es sich an, vermehrt selbst zu kochen und sich moderat zu bewegen, um die Darmtätigkeit zu aktivieren.