Am Anfang war die Nadel. Der Niederländer Willem ten Rhijne, Arzt bei der Ostindischen Handelskompanie, verfasste 1683 als Erster einen "westlichen" Bericht in lateinischer Sprache über eine Nadelstichtherapie, die er im fernen Osten kennengelernt hatte, und nannte sie Akupunktur. Das spärliche Wissen um Zusammenhänge und Hintergründe ließen die exotisch anmutende Heilmethode jedoch bald wieder in Vergessenheit geraten. Die große Pause dauerte bis in die 1970er-Jahre. Und die Skepsis blieb.
Die Anfänge der TCM in Europa
Kritiker wie die Wissenschaftsjournalistin Krista Federspiel etwa sprechen der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) das T ab. Es habe in China "Barfußheiler" gegeben und Philosophen, die sich über den Körper Gedanken gemacht hätten, aber keine wissenschaftliche Medizin. Der zunehmende Einfluss des Westens habe in China 1929 sogar zu einem Verbot der chinesischen Medizin durch die Kuomintang geführt. "Später wurde von den Kommunisten unter Mao Tse Tung ein künstliches System aus unterschiedlichen Traditionen zusammengestellt, um dem Westen etwas anbieten zu können." Das habe dann ab 1970 in Europa auch wirklich Interesse geweckt. Wegen des "exotischen Charmes", so Federspiel, aber auch, weil das hiesige Honorarsystem längere Gespräche zwischen Arzt und Patienten nicht zulasse. Und da kann die TCM Punkte sammeln: "Wenn ich über meine Krankheit reden kann, dann ist das schon Teil des Heilprozesses. Ganz besonders bei chronischen Beschwerden oder nach schlimmen Diagnosen wie Krebs."
Dass bei der "Wiedererweckung" der althergebrachten Heilkunde nach den Zerstörungen durch Maos Kulturrevolution viel Ideologie im Spiel war, bestätigt auch Claude Diolosa. "Die echte TCM kommt aus dem Taoismus", sagt Diolosa, der in Paris und an der TCM-Universität in Chengdu in China seine Ausbildung absolviert hat und seit Jahrzehnten TCM unterrichtet. Sein Ziel ist es, die fernöstliche Heilkunde mit der europäischen Kultur zu verbinden. Was nicht eben leicht ist angesichts einer sich hartnäckig haltenden Skepsis - und vielen Vorurteilen. "Für uns Europäer ist dieses System schwierig zu verstehen, das ja nicht nur Medizin ist, sondern auch ein innerer Weg, der die Entwicklung fördert", weiß Diolosa. Und keine Esoterik: "TCM besteht zu 90 Prozent aus pflanzlichen Wirkstoffen." Erst um 1980, lange nach den Nadeln, haben jedoch die Heilpflanzen vom Land der Mitte ihren Weg nach Europa gefunden.
Die fünf Säulen der TCM
Ein Großteil dieser Kräuter wird importiert. Aber Vorsicht vor Eigenimporten oder Bestellungen über dubiose Kanäle im Internet, warnen TCM-Gegner ebenso wie TCM-Ärzte. Die Rohkräuter oder auch Granulate sind hierzulande in ausgewählten Apotheken erhältlich und werden streng auf Schadstoffe überprüft, vor Ort, beim Eintritt in die EU und nochmals in Österreich. Dass es in der TCM keine Nebenwirkungen gibt, stimmt übrigens auch nicht ganz. Auch hier kann es, wie überall in der Pharmakologie, im Einzelfall zu Durchfall oder auch Allergien kommen.
Die Arzneimitteltherapie ist nur eine der fünf Säulen der TCM. Die anderen vier sind Akupunktur samt Moxibustion und Schröpfen, die Heilmassage Tuina, die Bewegungstherapien Tai-Chi-Chuan und Qigong sowie Ernährung. Letztere ist aus Sicht der TCM eine der wichtigsten Quellen für Gesundheit - und Unterstützung jeder Therapie. Darin ist sich China mit dem Westen einig, beide appellieren an die Eigenverantwortung des Menschen. Und fordern so auf, aktiv an der Genesung mitzuarbeiten. Oder, wie es in der TCM heißt, etwas gegen das Ungleichgewicht zu tun.
Ungleichgewicht als Ursache für Krankheiten
Worin besteht dieses Ungleichgewicht, das als Ursache für die Entstehung von Krankheiten gilt? Die chinesische Lehre spricht von Yin und Yang, zwölf Meridianen, fünf Elementen - zu Feuer, Wasser und Erde kommen Metall und Holz hinzu - und von Qi oder Chi, der Lebensenergie. Das sei nicht messbar, nicht nachgewiesen, zu viel Esoterik, klagen die Skeptiker. Stimmt nicht, sagt Brigitte Elisabeth Scheffold vom österreichischen TCM-Dachverband. Das sei einfach ein Übersetzungsfehler. "Die westliche Medizin nennt das Qi ,ATP', Adenosintriphosphat, ein chemisches Molekül, das in jeder Zelle eines Lebewesens Energie bereitstellt." Die chinesische Medizin, die in Organ- und Funktionskreisen denkt, kenne unterschiedliche Qi-Arten, das Lungen-Qi beschreibe die Atemenergie und Sauerstoffzufuhr, das Magen-Qi etwa die Nahrungsaufnahme. Zu viel Leber-Qi etwa zeige sich in Form von rotem Kopf und Bluthochdruck, zu schwaches Lungen-Qi in flachem Atem und Sauerstoffmangel.
"Viele TCM-Elemente finden sich im westlichen Heilsystem wieder, wie zahlreiche Triggerpunkte", sagt die physikalische Ärztin Scheffold. Sie hat vier Jahre lang in China studiert und schätzt das Ineinandergreifen der beiden Schulen, wie es auch in China praktiziert wird. Manchmal mit spektakulären Erfolgen: Die chinesische Pharmakologin Tu Youyou etwa habe 2015 den Nobelpreis erhalten für ihr Malariamedikament, das sie nach TCM-Überlieferungen aus Beifuß isoliert hatte.
Wirkung der Akupunktur ist evidenzbasiert
Den Bann gebrochen hat dieser Nobelpreis freilich nicht, noch immer trauen viele der TCM nicht über den Weg. Der war in den frühen 1980ern auch ein holpriger, mit New-Wave-Esoterik und Salbaderei ohne viel Ausbildung, die noch dazu lange nicht einheitlich war. So wird zum Beispiel das diagnostische System, das die Zunge begutachtet und bis zu 28 verschiedene Pulse misst, im Westen oft angezweifelt. Evidenzbasiert hingegen ist die Wirksamkeit von Akupunktur wie auch der Kräutermedizin durch immer zahlreichere Metaanalysen, die nach westlichen Standards durchgeführt werden. Und nur zugelassene Ärzte mit Zusatzausbildung dürfen in Österreich akupunktieren und als TCM-Ärzte praktizieren. Die Frauenärztin Ursula Ritz ist eine davon. Sie führt eine Klinik für Kinderwunsch südlich von Graz und vereint beide Ansätze. "Ich könnte mir die Gynäkologie nicht mehr ohne TCM vorstellen, bin aber froh über Ultraschall und Labortests."
Yan Ma, Professorin und Immunologin, leitet den Masterlehrgang für TCM an der MedUni Wien und arbeitet am Wiener AKH schon lang mit namhaften Professoren zusammen. Statt um Skeptiker kümmert sie sich mit ihren Studien lieber um Patienten - in der Frauenklinik, der Schmerztherapie, der HNO-Klinik, der Onkologie, wo sie Kräuter einsetzt gegen Nebenwirkungen wie Übelkeit, und jetzt auch in der Ambulanz für Long Covid. Hier gehen westliche und östliche Medizin plötzlich Hand in Hand. Yan Ma: "Wir sind alle drei Mal geimpft und unterstützen gleichzeitig unsere Kollegen mit chinesischer Medizin."