Der überraschende Rücktritt Reinhold Mitterlehners jährt sich morgen, Donnerstag, zum ersten Mal. Seither ist Österreich nicht wiederzuerkennen. Nach einem Jahr Öffentlichkeits-Abstinenz gab der ehemalige Vizekanzler und ÖVP-Chef den SN ein Interview.
Wie sieht Ihr Leben aus ein Jahr nach Ihrem Abschied aus der Spitzenpolitik? Reinhold Mitterlehner: Mein Tagesablauf ist deutlich eigenbestimmt und nicht mehr fremdbestimmt, das ist der größte Unterschied zu früher. Daher habe ich eine größere Lebensqualität. Ich habe viele Beratungstätigkeiten im Rahmen meines Firmenbereichs, bin aber auch bei etlichen politischen Veranstaltungen. Am Mittwoch trete ich bei der Gedenkfeier in Braunau als Redner auf. Wenn man einmal in der Politik tätig war, bleibt man ein politischer Mensch.
Ihr Nachfolger Sebastian Kurz hat es geschafft, die ÖVP zur Nummer eins zu machen und das Kanzleramt zu er-obern. Was machte Kurz anders als die meisten seiner Vorgänger? Erstens hat er es verstanden, als Außenminister ein gutes Image aufzubauen und sich nicht in die Streitigkeiten der Regierung hineinziehen zu lassen. Zweitens hat er einen guten Wahlkampf gemacht. Marketing und Kommunikation sind sehr gut.
Wie beurteilen Sie die Politik der Bundesregierung insgesamt? Sie profitiert natürlich sehr von der guten wirtschaftlichen Entwicklung. Wenn jemand einen sicheren Arbeitsplatz hat, wenn einer in seiner Tasche mehr Geld vorfindet, dann ist er zufriedener. Das merkt man bei allen Meinungsumfragen, und es kommt auch der neuen Regierung zugute. Dazu kommt, dass die Oppositionsarbeit derzeit wenig pointiert ist. Auch hat die Regierung in den ersten Monaten vor allem Verteilaktionen gesetzt, etwa den Familienbonus. Die wirkliche Frage wird sein: Wird es auch Reformen geben, und wie wird die Regierung vorgehen, wenn sie Engpässe bewältigen muss, und wenn sie Veränderungen bewirken muss, die zumindest im ersten Moment nicht allen Beteiligten nur Freude machen?
Eine wirkliche Staatsreform ist seit 1945 niemandem gelungen. Warum soll sie gerade der jetzigen Regierung glücken? Ich sehe durchaus diese Chance. Denn in der Bevölkerung hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass Veränderungen notwendig sind. Ich denke auch, dass die Teilorganisationen der ÖVP nicht mehr die Mitbestimmungsmacht und Beharrungsmacht haben, die sie früher hatten. Die Frage wird sein: Wie setzt man Reformen so um, dass auch die Bürger etwas davon haben? Im Grunde geht es darum, mehr Effizienz im System zu erreichen. Mich wundert, dass die Regierung die Diskussion über die künftige Kassenstruktur in der Öffentlichkeit austrägt. Vielleicht wäre es erfolgversprechender, über die Strukturen zunächst intern und erst dann in der Öffentlichkeit zu diskutieren.
Wo in Österreich sehen Sie den größten Reformbedarf? Im Verwaltungsbereich. Und im Gefüge zwischen EU-Verordnungen und deren Umsetzung in Österreich. Wir sind immer noch sehr stark überreguliert. Im Sozialversicherungsbereich müssen wir das System reformieren.
Bei den Pensionen besteht aufgrund der guten Wirtschaftsentwicklung im Moment weniger Druck, doch wir sind das letzte Land in Europa, das die Angleichung des Frauen- und Männerpensionsalters angeht. Wenn wir das Pensionssystem nicht zukunftsweisend regeln, wird uns das eines Tages Probleme machen.
Es fällt auf, dass die beiden Koalitionsparteien meist aus einem Munde reden und einander nicht in ihre Politik pfuschen. Warum ist das der alten Regierung nicht gelungen? Die früheren Koalitionsparteien haben den Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Konflikt gespiegelt. ÖVP und FPÖ hingegen sind in vielen Bereichen einig, sie haben ganz ähnliche Inhalte. Daher findet die Auseinandersetzung weniger zwischen den beiden Parteien statt, sondern eher zwischen der Regierung und den Institutionen, beispielsweise den Krankenkassen oder der AUVA. Dazu kommt, dass in der alten Koalition die Auseinandersetzung oftmals nicht um Zukunftsfragen gegangen ist, sondern es sich um die Bewältigung parteipolitischer Pattstellungen gehandelt hat.
Sie hatten bei Ihrem Amtsantritt im Herbst 2014 hervorragende Umfragewerte. Warum sind Sie nicht, wie später Sebastian Kurz, in Neuwahlen gegangen? Damals lag die Nationalratswahl erst ein Jahr zurück, und die Erfahrung zeigt, dass der, der Wahlen vom Zaun bricht, vom Wähler bestraft wird.
Sebastian Kurz wurde vom Wähler nicht bestraft. Ja, aber ihm wurde nicht die Schuld an der Neuwahl zugemessen. Die Menschen hatten den Eindruck, dass in der Regierung nichts mehr weitergeht, was Verständnis für diese Neuwahl geweckt hat.
Was halten Sie von der FPÖ als Regierungspartei? Die FPÖ wird das Problem haben, das jeder Juniorpartner in einer Regierung hat. Dass nämlich die Erfolge dem größeren Partner zugemessen werden, während Misserfolge beiden auf den Kopf fallen.
Offenbar war von Ihnen und Sebastian Kurz vereinbart, dass Sie ihm rechtzeitig vor der Nationalratswahl die Spitzenkandidatur übertragen. Warum dieser überraschende Rücktritt im Mai 2017? Weil die Bedingungen für den Übergang nicht so waren, wie ich mir das vorgestellt habe. Ich wollte das Regierungsprogramm umsetzen, das die ÖVP wenige Wochen vor meinem Rücktritt mit der SPÖ vereinbart hat. Es war ein gutes Programm, es war die Basis für den Wirtschaftsaufschwung. Doch nicht alle wollten, dass die Regierung einen Erfolgspfad beschreitet.