Corona existiert, das steht auf dem Graffito. Auch wenn man es weder sieht, hört noch schmeckt. Was der Bub, der an der Wellblechhütte vorbeigeht, aber schmecken kann, ist, was sich in seiner Schüssel befindet: "Githeri", ein nahrhaftes Gemisch aus Bohnen und Mais. Das Bild ist im Mathare-Slum, nordöstlich von Kenias Hauptstadt Nairobi, entstanden. In dem dicht besiedelten Armenviertel lebt rund eine halbe Million Menschen, ohne fließendes Wasser, Abfall pflastert die lehmigen Straßen.
Es sind nur wenige Kilometer, die zwischen dem Büro von Kathryn Taetzsch, Krisenmanagerin bei der Hilfsorganisation World Vision, und den Slums von Nairobi liegen. Sie sagt: "Wir sitzen auf einer Zeitbombe." Bricht das Coronavirus in den Armenvierteln von Nairobi aus, hätte das "dramatische Folgen".
Die offiziellen Zahlen erwecken einen anderen Anschein. Am Freitag gab es in Kenia nur 320 bestätigte Covid-19-Fälle, 14 Menschen sind bislang daran gestorben. "Doch die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen", sagt Taetzsch. "Es gibt einfach nicht genügend Tests."
Überhaupt sei zu befürchten, dass das kenianische Gesundheitssystem - wie viele andere in Afrika - mit einem Anstieg von Covid-19-Patienten rasch überfordert wäre. Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnte unlängst, dass sich Afrika südlich der Sahara zum nächsten Epizentrum der Coronapandemie entwickeln könnte. In einer Modellrechnung fürchtet die WHO, dass es mindestens 300.000 Todesopfer geben könnte, 30 Millionen Menschen seien von extremer Armut bedroht.
Die kenianische Regierung hat früh auf die Coronapandemie reagiert. Seit 25. März ist der internationale Flugverkehr gestoppt. Kenias Präsident Uhuru Kenyatta verhängte eine nächtliche Ausgangssperre. Wohlwissend, dass die meisten seiner Bürgerinnen und Bürger tagsüber im informellen Sektor tätig sind. Sie betreiben Essensstände, Friseursalons oder putzen in wohlhabenden Haushalten. Für sie bedeutet keine Arbeit schlicht: kein Geld.
Die kenianische Regierung hatte außerdem angeordnet, dass in den Matatus, den öffentlichen Kleinbussen, nur noch die Hälfte der Passagiere transportiert werden soll. "Doch viele Busfahrer halten sich nicht daran", sagt Taetzsch. Sie haben oftmals keine Option, weniger Passagiere bedeuten weniger Einkommen. In kurzer Zeit wurden die Bustickets fast doppelt so teuer.
In den Matatus ist "Social Distancing" schwer möglich. Im Slum ist es so gut wie unmöglich. Enge Wege führen durch die Wellblechhütten, Sanitäranlagen gibt es nur begrenzt. "In den Slums teilen sich 50 Haushalte oder mehr eine Toilette", sagt Taetzsch. "Und das sind dann einfache Latrinen oder Erdlöcher." Sich danach die Hände zu waschen ist meist nicht möglich. "Unter diesen hygienischen Bedingungen ist ein Coronaausbruch sehr wahrscheinlich."
Wer an Corona erkrankt, muss auch in Kenia für 14 Tage in Quarantäne. Doch wer von der Hand in den Mund lebt, kann sich kaum daran halten. Und doch greift die kenianische Regierung hart durch: Wer sich nicht an die Selbstisolation hält, muss in eine der öffentlichen Quarantäneeinrichtungen. Doch die kosten Geld - und zwar nicht wenig: Zwischen 2000 und 8000 Kenianische Schilling, rund 17 bis 70 Euro am Tag, muss ein Erkrankter für Kost und Logis zahlen. "Viele Menschen verdienen nicht einmal 2000 Schilling in einer Woche", sagt Taetzsch. Die hohen Spesen führten dazu, dass mehrere Dutzend Infizierte aus den staatlichen Quarantäneeinrichtungen geflohen sind.
Die sozialen Spannungen in Kenia nehmen in der Coronakrise zu. Taetzsch, die auch während der Ebolaepidemie in Sierra Leone im Einsatz war, befürchtet, dass es aufgrund der Coronamaßnahmen zu soziale Unruhen in den Armenvierteln kommt. "Die Gesundheit ist zweitrangig, wenn man darüber nachdenken muss, woher man seine nächste Mahlzeit bekommt", sagt sie und berichtet von einem Vorfall, der sich vor zwei Wochen in Nairobis Armenviertel Kibra ereignete. Dort wurden Nahrungsmittel an Bedürftige verteilt, doch es kamen so viele, dass Chaos ausbrach. Die Slumbewohner wurden niedergetreten, zwei Menschen starben an ihren Verletzungen.
Wie sich die Pandemie in Kenia weiterentwickelt ist ungewiss. Taetzsch: "Wir stehen erst am Anfang."