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Russland: Neue Evakuierungen aus ukrainischen Städten

Russland will zur Rettung von Zivilisten aus umkämpften Städten in der Ukraine erneut Fluchtkorridore schaffen. Dazu solle am Mittwoch um 8.00 Uhr MEZ eine Waffenruhe in Kraft treten, teilte Generaloberst Michail Misinzew vom russischen Verteidigungsministerium am Dienstagabend der Agentur Interfax zufolge mit. Moskau erkläre sich dazu bereit. Es gab bereits mehrere Anläufe für Evakuierungen, die in den meisten Fällen gescheitert waren.

Bewohner des vom Aggressor zerstörten Gebiets
Bewohner des vom Aggressor zerstörten Gebiets

Man wolle bis 1.00 Uhr MEZ der ukrainischen Seite Zeit geben, die humanitären Korridore zu koordinieren, heiß es aus Moskau. Aus der Ukraine gab es dazu zunächst keine Reaktion. Dem russischen Verteidigungsministerium zufolge bietet Moskau an, Menschen aus den Städten Kiew, Sumy, Charkiw, Mariupol und Tschernihiw nach Russland oder in andere ukrainische Städte zu bringen. Kiew hat es bisher abgelehnt, dass Ukrainer in das Nachbarland Russland zu evakuieren.

Auch am Dienstag hatte Russland eine Feuerpause in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine verkündet und die Einrichtung von humanitären Korridoren aus fünf belagerten Großstädten bekanntgegeben. Nur in der nordostukrainischen Stadt Sumy funktionierte der Fluchtkorridor allerdings. Eine Evakuierungsroute für die belagerte Hafenstadt Mariupol wurde von russischen Streitkräften unter Beschuss genommen.

Aus Sumy wurden am Dienstag die ersten Zivilisten gebracht worden. "Der erste Konvoi von 22 Bussen ist bereits in Poltawa angekommen", erklärte ein Kiewer Regierungsbeamter am Abend. Poltawa liegt rund 175 Kilometer südlich von Sumy. Dort seien die Menschen "in Sicherheit", sagte der Beamte. Nach Angaben aus Kiew war am Abend eine zweite Gruppe von 39 Bussen auf dem Weg nach Poltawa.

Nach Angaben des stellvertretenden Leiters des Präsidentenbüros, Kyrylo Tymoschenko, wurden am Dienstag aus Sumy im Laufe des Tages zwei Kolonnen mit insgesamt 61 Bussen in Richtung Poltawa gefahren. Unter den Passagieren waren etwa 1.100 ausländische Studenten, darunter aus Indien und China. Für eine weitere Evakuierung ins westukrainische Lwiw nahe der polnischen Grenze stünden Züge bereit.

Zuvor starben in Sumy bei russischen Angriffen in der Nacht nach Behördenangaben mindestens 21 Menschen, darunter zwei Kinder. Sumy liegt nur etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Seit Tagen wird die Stadt von russischen Truppen angegriffen.

Für andere eingeschlossene Städte wie Mariupol oder Wolnowacha in der Ostukraine scheiterten in den vergangenen Tagen mehrere Versuche zur Einrichtung eines derartigen "grünen Korridors". Beide Seiten warfen sich gegenseitig Sabotage vor. Angaben über russische Angriffe auf flüchtende Menschen entsprechen aus Sicht der NATO der Wahrheit. "Es gibt sehr glaubwürdige Berichte, dass Zivilisten bei der Evakuierung unter Beschuss geraten", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Russland hatte das Nachbarland Ukraine am 24. Februar angegriffen. UNO-Angaben zufolge wurden mehr als 400 Zivilisten getötet. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht.

Für Hunderttausende Menschen in Mariupol ist die Lage nach Angaben humanitärer Helfer katastrophal. "Die Situation ist apokalyptisch", sagte IKRK-Sprecher Ewan Watson am Dienstag in Genf. In der Stadt gingen alle Vorräte zur Neige. Das IKRK habe sämtliche Bestände ausgeliefert und versuche, auf allen möglichen Wegen Nachschub ins Land zu bringen. Aus Sicht des Roten Kreuzes ist derzeit keine sichere Flucht aus Mariupol möglich.

Die Ukraine macht Russland für den qualvollen Tod eines kleines Mädchens in Mariupol verantwortlich. Die sechsjährige Tanja sei unter den Trümmern eines zerstörten Hauses verdurstet, schrieb Bürgermeister Wadym Bojtschenko am Dienstag im Nachrichtenkanal Telegram.

Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte hat seit dem russischen Angriff bis Dienstag 474 getötete Zivilisten dokumentiert. Darunter waren 29 Minderjährige, wie das Büro in Genf berichtete. Dem Büro lagen zudem verifizierte Informationen über 861 Verletzte vor, darunter mehr als 40 Minderjährige. Die tatsächliche Zahlen dürfte deutlich höher sein. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchten oft Tage, um Opferzahlen zu überprüfen. Das Hochkommissariat gibt nur Todes- und Verletztenzahlen bekannt, die es selbst unabhängig überprüft hat.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) forderte angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine einen besseren Schutz für Krankenhäuser. "Es versteht sich von selbst, dass Gesundheitspersonal, Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen niemals zu einem Ziel werden dürfen, auch nicht während Krisen und Konflikten", sagte Europa-Regionaldirektor Hans Kluge am Dienstag in Kopenhagen. Bisher seien 16 Berichte über Attacken auf das Gesundheitswesen bestätigt worden. Weitere würden überprüft, so Kluge: "Die WHO verurteilt diese Angriffe auf das Schärfste."

Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine könnte UNO-Angaben zufolge demnächst die Schwelle von zwei Millionen überschreiten. "Ich denke, dass wir heute oder spätestens morgen die Zwei-Millionen-Marke überschreiten werden. Es hört also nicht auf", sagte der Chef des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR), Filippo Grandi, am Dienstag in Oslo.

KOMMENTARE (2)

Friedrich Winkler

Man kann nur hoffen und wünschen,, dass beide Konfliktparteien sich rasch auf einen Frieden einigen, damit diese menschliche Tragödie und Wahnsinn bald ein Ende hat
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Peter Lüdin

Ein paar Stunden Evakuierungszeit... um das ganze bisherige Leben zurückzulassen. Hier werden doch ethnische Säuberungen als humanitäre Massnahmen kaschiert.
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