SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sprach von einem sehr guten Ergebnis. Es könne eine Regierung für den Fortschritt gebildet werden, sagte Scholz nach Abschluss der dritten Sondierungsrunde. Deutschland stehe vor dem größten industriellen Modernisierungsprojekt seit wahrscheinlich über 100 Jahren. Wenn die Zusammenarbeit weiter so gut klappe, werde das eine gute Zukunft für das Land.
Er sei nach den Sondierungsgesprächen überzeugt, "dass es lange Zeit keine vergleichbare Chance gegeben hat, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu modernisieren", sagte FDP-Chef Christian Lindner. Er beschrieb die Gespräche mit Vertretern der anderen beiden Parteien als diskret und sehr ernsthaft. Die Vertreter der Parteien hätten sich auf "klare finanzielle Leitplanken" verständigt, sagte Lindner. Es gebe aber auch eine Perspektive für Entlastungen bei den Stromkosten. Er sprach von einem "sozial-ökologischen Ordnungsrahmen" für die Marktwirtschaft.
Grünen-Co-Parteichefin Annalena Baerbock sagte, er sei eine Fortschrittskoalition möglich. Es sei in sehr vertrauensvollen Gesprächen gelungen, "einen Vorschlag für eine Reform-und Fortschrittskoalition auf den Weg zu bringen, um das nächste Jahrzehnt wirklich als Jahrzehnt der Erneuerung zu nutzen". Dafür seien Investitionen in Forschung und Digitalisierung nötig, die eine künftige Bundesregierung angehen wolle. Europa müsse zum klimaneutralen Kontinent werden, gleichzeitig solle Deutschland ein wettbewerbsfähiger Industriestandort bleiben, versicherte Baerbock.
Der Start förmlicher Koalitionsverhandlungen ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Regierung. In den bisherigen Sondierungsgesprächen loteten SPD, Grüne und FDP unverbindlich Differenzen und Gemeinsamkeiten aus. Wer Koalitionsverhandlungen aufnimmt, tut das hingegen mit der klaren Absicht, eine Regierung zu bilden. Ein Scheitern ist aber auch weiterhin nicht ausgeschlossen.
In einem Ergebnispapier der Sondierungen listeten SPD, Grüne und FDP "Vorfestlegungen" auf und räumten dabei auch einige Streitthemen ab. Wohl mit Rücksicht auf die Wahlversprechen der FDP heißt es etwa: "Wir werden keine neuen Substanzsteuern einführen und Steuern wie zum Beispiel die Einkommen-, Unternehmens- oder Mehrwertsteuer nicht erhöhen." Die notwendigen Zukunftsinvestitionen würden "im Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse" gewährleistet.
SPD, Grünen und FDP streben einen schnelleren Kohleausstieg an. In dem gemeinsamen Papier heißt es: "Zur Einhaltung der Klimaschutzziele ist auch ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung nötig. Idealerweise gelingt das schon bis 2030." Bisher ist der Kohleausstieg bis spätestens 2038 geplant.
Auch die Stromkosten für private Haushalte und Betriebe sollen gesenkt werden. "Im Laufe der Legislaturperiode werden wir die Finanzierung der EEG-Umlage über den Strompreis so schnell wie möglich beenden", heißt es in einem am Freitag vorgelegten gemeinsamen Papier der drei Parteien zu den Ergebnissen der Sondierungen. "Damit senken wir die Stromkosten für private Haushalte und Betriebe."
Mit der milliardenschweren Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) werden Ökostromanlagen gefördert. Erst am Freitag wurde bekannt, dass die Umlage im Jahr 2022 deutlich sinkt. Sie ist allerdings nur ein Bestandteil des Strompreises. In der Branche wird damit gerechnet, dass eine sinkende Umlage die Strompreise zwar insgesamt stabilisiert, die Stromkosten aber unterm Strich nicht sinken. Auf der anderen Seite nämlich sind etwa Beschaffungskosten, die die Energieversorger für Strom zahlen müssen, deutlich gestiegen.
Ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen soll indes nicht kommen. In einem gemeinsamen Papier der drei Parteien zu den Ergebnissen der Sondierungen heißt es: "Wir wollen Deutschland zum Leitmarkt für Elektromobilität machen und dafür den Ausbau der Ladesäuleninfrastruktur massiv beschleunigen. Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben." Grünen-Chef Robert Habeck sagte, es sei in dem gemeinsamen Papier darum gegangen, Klarheit zu schaffen. "Das Tempolimit konnten wir nicht durchsetzen. An anderen Stellen sind wir sehr zufrieden." Die FDP ist gegen ein generelles Tempolimit.
Außerdem soll der gesetzliche Mindestlohn auf zwölf Euro angehoben werden. Der derzeit geltende Mindestlohn liegt bei 9,60 Euro pro Stunde. Vor den Sondierungsgesprächen zu einer möglichen Regierungsbildung galt er als eines der schwierigen Themen in den Beratungen zwischen SPD, Grünen und FDP.
Steuer-Entlastungen für Geringverdiener wird es indes nicht geben. Solche Entlastungsversprechen seien nach den Sondierungsgesprächen nicht vorgesehen, sagte Habeck. "Das ist halt der Preis, den wir zahlen, weil die FDP sich an der Stelle durchgesetzt hat." Solche Entlastungen wären nur zu stemmen, wenn man die Steuern für Spitzenverdiener anheben würde - und das hätten die Liberalen abgelehnt.
Statt der bisherigen Hartz IV-Grundsicherung soll ein Bürgergeld eingeführt werden. Hilfen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt sollen hierbei zentral sein. Auch soll an Mitwirkungspflichten festgehalten werden, die jedoch entbürokratisiert werden sollen. "Die Zuverdienstmöglichkeiten wollen wir verbessern, mit dem Ziel, Anreize für Erwerbstätigkeit zu erhöhen", hieß es weiter.
"Das Wahlalter für die Wahlen zum Deutschen Bundestag und Europäischen Parlament wollen wir auf 16 Jahre senken", heißt es weiters. Zudem heißt es: "Wir wollen das Wahlrecht überarbeiten, um nachhaltig das Anwachsen des Deutschen Bundestages zu verhindern."
Zum Thema Migration und Flucht hielten die Sondierer fest: "Die Asylverfahren, die Verfahren zur Familienzusammenführung und die Rückführungen wollen wir beschleunigen", zudem sollten legale Zugangswege geschaffen werden.
Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel meinte am Freitag am Rande eines Besuchs in Brüssel, dass eine mögliche Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP einen pro-europäischen Kurs verfolgen würde. Dies sei eine wichtige Botschaft für die anderen EU-Mitgliedstaaten. "Dann sind die Erwartungen natürlich gerade, dass die Regierung an vielen Stellen Dinge, die wir begonnen haben, fortsetzt, aber natürlich auch neue Akzente setzt", sagte Merkel.
Dagegen kam von ihrer Partei, der konservativen Union scharfe Kritik an den Sondierungsergebnissen. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sprach von einem "kunterbunten Wunschzettel mit vielen großen Worten und noch mehr Fragezeichen". Die Vorhaben seien nicht finanziert. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt befand: "Das ist keine Grundlage für eine Fortschrittskoalition, sondern für Linksträumereien. Die Ampel steht deutlich auf Rot."
Vertreter der deutschen Wirtschaft zeigten sich angesichts der Absage an Steuererhöhungen erleichtert. "Das Ergebnispapier der Sondierungen zeigt den Willen der drei möglichen Ampel-Koalitionäre, zentrale Themen anzugehen: Digitalisierung, Beschleunigung von Verwaltungsprozessen und Genehmigungsverfahren oder auch die Reduktion der Steuerbürokratie", sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Peter Adria. "Auch ist das Bekenntnis wichtig, keine Steuer zu erhöhen, keine Substanzsteuer einzuführen und den öffentlichen Haushalt auf Unwirtschaftlichkeiten zu überprüfen." Allerdings fehlten konkrete Aussagen zur Finanzierung der geplanten Investitionen.
Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) lobt die Absage an Steuererhöhungen. "Ein global wettbewerbsfähiges Steuersystem ist wichtig für unseren Standort", sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm. "Es ist gut, Konjunkturimpulse durch Superabschreibungen für Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung zu stärken." Der BDI vermisst aber eine klare Aussage zur Ausweitung der Verlustrückträge aus dem Zeitraum der Corona-Pandemie. Die Finanzierung öffentlicher Ausgaben bleibe unklar, da die Haushaltsspielräume in dieser Legislaturperiode äußerst eng seien.
Die Linke-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow kritisierte, in einer Ampel-Koalition werde es keine Vermögenssteuer und "keine Umverteilung von oben nach unten geben." Die FDP habe sich bei den Sondierungen in vielen Punkten durchgesetzt, schrieb sie auf Twitter.
Laut ZDF-Politbarometer treffen die Pläne zur Bildung einer Ampel-Koalition auf Zustimmung der Bevölkerung. 62 Prozent der Befragten fänden eine Regierung aus SPD, Grünen und FDP danach gut. Unterstützung gibt es in der Umfrage auch für einen Kanzler Olaf Scholz. Drei Viertel der Befragten fänden es gut, wenn der SPD-Politiker Kanzler würde.
Die SPD hatte die deutsche Bundestagswahl am 26. September mit 25,7 Prozent knapp vor der Union (24,1 Prozent) gewonnen. Scholz hatte daraufhin angekündigt, er wolle die Möglichkeiten der ersten Ampel-Koalition auf Bundesebene ausloten.
Grüne und FDP galten nach der Wahl als Königsmacher. Sie hätten rechnerisch sowohl zusammen mit der SPD eine Ampel-Koalition, als auch mit der Union ein Jamaika-Bündnis eingehen können. Beide Optionen schlossen sie zunächst nicht aus, beschlossen nach mehreren Gesprächsrunden aber, zunächst intensiver mit den Sozialdemokraten zu sondieren.