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Der Süden Deutschlands: Ende des Autolandes?

Der Süden ist der Wirtschaftsmotor Deutschlands. BMW, Daimler und Co. machten es möglich. Doch der Umstieg auf E-Mobilität wirft einiges in der Branche um. Gewinner sind andere.

Jürgen Scholz, kräftige Stimme, fester Blick, wirkt wie einer, den nichts so leicht umwerfen kann. Der Gewerkschafter hat schon einige Werksschließungen begleitet, hat bei vielen Kundgebungen gesprochen. Doch wenn es um die Schicksale der Menschen geht, wird er emotional: "Wenn man in die Augen von 55-Jährigen blickt, die jahrzehntelang in der Automobilbranche gearbeitet haben und jetzt im Supermarkt Regale einräumen müssen - dann ist das frustrierend."

Süddeutschland. Hier zeigt sich besonders stark, wie sehr sich die Wirtschaft wandelt. Auf der einen Seite: Start-ups. Junge Unternehmen, die meist in der Informationstechnik arbeiten. Auf der anderen Seite: Unternehmen, die jahrzehntelang als Stütze des Wirtschaftsstandorts Süddeutschland galten. Autozulieferer zum Beispiel, die Aushängeschilder eines ganzen Landes. Deren Geschäftsmodell bekommt nun Risse, weil sich die Welt um sie herum verändert.

Junge Firmen und alte Geschäftsmodelle - wie prägen sie die Wirtschaft im süddeutschen Raum? Und was tun sie, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein? Eine Reise durch Süddeutschland soll Antworten liefern.

Wackersdorf in der Nähe von Regensburg. In den 1980er-Jahren schaffte es die Gemeinde in die Schlagzeilen. Im Osten der Stadt sollte eine Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Brennstäbe aus Atomreaktoren entstehen. Zehntausende wehrten sich dagegen, Demonstranten zündeten Polizeiautos an, die Beamten setzten Tränengas ein. Am Ende gewannen die Gegner - und auf dem Gelände entstand ein Industriegebiet.

Montagnachmittag, kurz nach Schichtwechsel. Die Zufahrtsstraße zum Werk des Autozulieferers Fehrer ist leer, nur ein paar Lkw-Fahrer suchen nach der richtigen Einfahrt. Die Firma stellt Interieur für Autos her, Sitzpolster zum Beispiel. Vor einigen Wochen kündigte Fehrer an, sein Werk 2022 zu schließen. 175 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind betroffen.

175 von Hunderttausenden. In Bayern und Baden-Württemberg arbeiten knapp eine halbe Million Menschen direkt oder indirekt für die Autobranche: bei Audi, BMW, Daimler. Oder bei Zulieferern wie Bosch, Schaeffler und Webasto. Es ist ein Milliardengeschäft. Eines, dessen Zukunft in Gefahr ist.

Ein Besuch bei Jürgen Scholz. "Nach solchen Meldungen wie von Fehrer sitzt der Schock tief", sagt er. Scholz ist Geschäftsführer bei der IG Metall in Regensburg. Er gibt den Menschen eine Stimme, die um ihren Job fürchten müssen. Die Liste seiner Aufgaben ist lang: Er koordiniert Streiks, verhandelt mit Arbeitgebern, berät Mitarbeiter. Ein Streiter für die Zukunft der Beschäftigten. Allein in seinem Zuständigkeitsbereich sind es Zigtausende.

Eine davon will reden. Eigentlich. Doch kurz vor dem Termin sagt sie ab. Sie möchte anonym bleiben. Nur so viel: Sie habe zu den ersten Mitarbeiterinnen bei Fehrer gehört. Jahre später verliert sie nun wohl ihren Job. Weil auch bei Fehrer die Aufträge wegbrechen. Die Mitarbeiterin trifft diese Nachricht in einem Alter, das ihren beruflichen Neuanfang erschweren wird. Ihre Zukunft? Ungewiss.

Wer über Unternehmen in der Krise spricht, spricht über die Autobranche. Jahrzehntelang prägte sie den Wirtschaftsstandort Süddeutschland. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder spricht gern vom "Autoland Bayern". Sein baden-württembergischer Amtskollege Winfried Kretschmann appelliert: "Wir müssen alles dafür tun, dass wir Autoland bleiben." Nur: Wie?

Klar ist: Zigtausende Arbeitsplätze und Umsätze in Milliardenhöhe sind in Gefahr. Jedes zehnte in Deutschland zugelassene Auto wird elektrisch betrieben. Zum Vergleich: Ein Auto mit Verbrennungsmotor hat am Antriebsstrang Tausende Teile, ein E-Auto nur Hunderte. Die Rechnung ist einfach: Weniger Teile, geringere Nachfrage. Geringere Nachfrage, weniger Arbeitsplätze. Nur drei Beispiele:

A-Kaiser, Hersteller von Leichtbau-Komponenten bei Passau: Hauptabnehmer VW bricht weg, das Unternehmen meldet Insolvenz an. 430 Mitarbeiter gehen in Kurzarbeit.

Antolin, Hersteller für Türverkleidungen bei Regensburg: Die Produktion in Deutschland sei zu teuer, das Unternehmen verlagert die Produktion ins Ausland. Von einer Werksschließung wären rund 260 Mitarbeiter betroffen.

Und eben: Fehrer. Auch hier droht die Betriebsschließung.

Drei Firmen, Hunderte Menschen. Gewerkschafter Scholz sieht die Unternehmen in der Pflicht: So schwierig es auch sei, sie bräuchten eine Zukunftsstrategie. "Alles, was mit klassischen Verbrennern zu tun hat, da ist mit einem Verlust der Jobs zu rechnen", sagt er.

Man müsse dafür sorgen, dass die Beschäftigten eine Zukunft haben. Man müsse sie umschulen, wenn möglich. Oft funktioniere das. Aber eben nicht immer: "Man kann aus einem Staplerfahrer keinen IT-Ingenieur machen", sagt Scholz.

Er wolle nicht zu negativ klingen. Die Autobranche in seiner Region stehe ja noch gut da. Und: Wer wisse schon, welche Technologien sich durchsetzen und welche nicht. Hat die E-Mobilität Zukunft? Oder doch eher mit Wasserstoff betriebene Motoren? Vielleicht sogar eine ganz andere Technik? Es sei doch auch "ein bisschen Glücksrittertum", ob man auf eine Technologie mit Zukunft setze.

Viele offene Fragen, die sich die Firmen im Raum Regensburg stellen. Immerhin ein kleiner Trost: Tausende Mitbewerber auf der ganzen Welt stellen sich dieselben.

Die Isomatte steht für Erfolg, zumindest für Andrea Pfundmeier. Jahrelang lag sie im kleinen Büro - mittags rollte Pfundmeier sie aus. Nacheinander ruhten sich alle Mitarbeiter des späteren Erfolgsunternehmens Secomba auf der Matte aus. Damals ging das noch: Sie waren nur zu dritt.

Zehn Jahre später. Ein Montagmorgen um 8 Uhr. Grau an grau reihen sich die Gebäude im Augsburger Innovationspark aneinander. Die Büros von Secomba sind noch leer, die Bildschirme der Computer schwarz. Nicht, weil es dem IT-Unternehmen an Aufträgen fehlt. Hier beginnt jede und jeder der mittlerweile 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im eigenen Tempo. Homeoffice oder Büro? Beides okay. Das ist der Chefin besonders wichtig. "Ich wollte eine Umgebung schaffen, in der auch ich gern arbeiten möchte", sagt Pfundmeier.

Gerade noch ging es in Regensburg um Fließbandarbeit und Existenzangst. Jetzt geht es in Augsburg um flexible Arbeitszeiten und Wohlbefinden.

IT-Firmen wie Secomba sind gefragt wie nie. Überspitzt gesagt also: das Gegenstück zur klassischen Autoindustrie. Die Nachfrage nach Informationstechnik nimmt schon seit Jahren zu. Aber, sagt Bertram Brossardt: "Die Coronapandemie hat zu einem Digitalisierungsschub geführt." Brossardt ist Geschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und beobachtet, dass die Krise dem IT-Sektor einen "positiven Impuls" gegeben hat. Egal ob bei Videokonferenzen oder im Onlinehandel: Ohne das Digitale geht oft nichts mehr. Die Folge: mehr Umsatz, mehr Beschäftigte in der IT-Branche.

Auch Secomba konnte während der Krise weiter wachsen: um vier neue Mitarbeiter.

Und man kann sich hier tatsächlich wohlfühlen: grünes Samtsofa, bunte Wände, schwarz-weiß gerahmte Bilder. Bei Secomba sieht es ein bisschen aus wie aus einem Prospekt für Designermöbel. Pfundmeier wird heute erzählen, wie ihr Start-up es geschafft hat: Erst ein Stipendium des deutschen Wirtschaftsministeriums, dann der deutsche Gründerpreis, schließlich schaffte es Pfundmeier auf die "Forbes"-Liste der 30 besten Technologie-Unternehmer unter 30 Jahren.

Es ist eine Geschichte, die stellvertretend für viele Firmen steht. Jeden Tag werden im Schnitt acht Start-ups in Deutschland gegründet. In München gibt es mit dem Werk 1 ein ganzes Gebäude für ein paar Dutzend aufstrebende Firmen. In Augsburg siedeln sich kreative Menschen auf einer Fläche an, die so groß ist wie 100 Fußballfelder. Die meisten Gründungen finden im Software-Bereich statt. Ein Zukunftsmodell, aber ein riskantes. Nur wenige schaffen die Zehn-Jahres-Marke. Secomba schon.

Andrea Pfundmeier, groß, schlank, schwarzer Overall zu weißen Sneakers. Sie ist das Gesicht des Start-ups. Zehn Jahre ist es nun her, dass sie mit ihrem damaligen Studienkollegen Robert Freudenreich das Unternehmen gründete. Sie, die Wirtschaftsjuristin, er, der Informatiker. Zusammen entwickelten sie Boxcryptor, eine Software, die Daten verschlüsselt - also persönliche Videos, Bilder, die man online abspeichert. Mittlerweile hat Secomba eine halbe Million Kunden und machte zuletzt einen Jahresumsatz von drei Millionen Euro.

Auf IT-Unternehmen wie Secomba ruhen in Deutschland große Hoffnungen. In diesem Jahr werden sie gemeinsam rund 100 Milliarden Euro Umsatz machen, schätzt der Verband Bitkom. Zum Vergleich: Die Autobranche erreicht einen Umsatz, der grob gesagt vier Mal höher ist. Aber im Gegensatz zum bundesweit bedeutendsten Industriezweig wächst der Umsatz in der IT-Branche von Jahr zu Jahr: im Vergleich zu 2020 um 6,2 Prozent. Ein Zukunftsmarkt.

Doch als klassisches Start-up sieht Pfundmeier Secomba nicht mehr. Früher habe es einen Tischkicker gegeben - und das Wochenend-Bier am Freitag um 16 Uhr. "Aber jetzt ist es auch ganz verständlich, dass viele dann zu ihrer Familie wollen", sagt Pfundmeier. Auch sie hat mittlerweile Familie. Ihr Geschäftspartner Freudenreich ebenso. Das Unternehmen ist erwachsen geworden. Aus der jugendlichen Sturm-und-Drang-Phase zum seriösen Arbeitgeber. Und die Isomatte, auf der sie sich mittags ausruhte? Die ist mittlerweile Geschichte.

Die Reise entstand in Kooperation mit der "Augsburger Allgemeinen
".


Wahltour durch Deutschland:

Bereits jeder zehnte zugelassene Wagen in Deutschland ist ein E-Auto.
Auf dem Industriegelände in Wackersdorf ist auch der Sitz des Automobilteile-Zulieferers Fehrer.
Das Büro des Augsburger IT-Unternehmens Secomba wurde während der Coronakrise wohnlicher gestaltet.