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Wissenschafter kritisieren Schwedens Weg

In weiten Teilen Europas müssen die Menschen wegen der Corona-Pandemie weitgehend daheim bleiben. Nicht so in Schweden. Wissenschafter fordern die dortige Regierung aber zum Umdenken auf.

Am Wochenende genossen viele Schweden die Sonne in den geöffneten Gastgärten.
Am Wochenende genossen viele Schweden die Sonne in den geöffneten Gastgärten.

Anders als in weiten Teilen Europas greift die schwedische Regierung in der Coronakrise nicht mit strikten Maßnahmen in den Alltag ihrer Bürger ein. Den Menschen wird lediglich ans Herz gelegt, Abstand zu halten und zu Hause zu bleiben, wenn sie krank sind. Cafés und Lokale, Friseure, Einkaufszentren und Fitnessstudios sind weiter geöffnet. Auch in den Kindergärten und Grundschulen bis zur neunten Klasse herrscht reger Betrieb.

Dass das soziale Leben weiter floriert, hat seinen Preis. In Schweden wurden weitaus mehr Infizierte mit dem Coronavirus registriert als in den anderen nordischen Ländern, bis Dienstagvormittag starben 1580 Menschen mit einer Covid-19-Erkrankung. Zum Vergleich: In Dänemark gab es bisher rund 360 Todesfälle, in Norwegen rund 180. Beide Länder haben jeweils halb so viele Einwohner wie Schweden.

Ungeachtet der hohen Zahlen vertrauen Schwedens Regierung und Gesundheitsbehörde auf den Staatsepidemiologen Anders Tegnell. Er steht symbolhaft für den schwedischen Sonderweg. Von Schul- und Grenzschließungen hält er nichts, auch sonst ist seine Strategie eine andere als die, die fast alle anderen in Europa gewählt haben. "Wir glauben, wir erreichen mit Freiwilligkeit genauso viel wie andere Länder mit Restriktionen", sagte Tegnell erst am Montag.

Diese Sicht teilen andere nicht. Knapp 2000 Wissenschafter haben die schwedische Regierung zuletzt in einem Brief zum Umdenken aufgefordert. Unter ihnen ist Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiologie von Lungenerkrankungen in Göteborg. Er hält die hohen Todeszahlen für inakzeptabel und den Preis, den Schweden im Corona-Kampf bezahlt, für zu hoch. "Ich sehe nicht, dass Schweden eine konkrete Strategie verfolgt und ich sehe auch keinen Trend", sagt er. "Die Richtlinien sind viel zu vage und die Menschen sind verwirrt."

Dass die Bars und Einkaufszentren in Stockholm am Wochenende voll waren, zeige, dass die Botschaft nicht richtig angekommen sei. "Die Leute scheinen zu glauben, das hier sei ein Eishockeyspiel: Schweden gegen den Rest der Welt." Dabei würden täglich immer noch Hunderte neue Ansteckungen registriert. Lundbäck fordert deshalb die Schließung aller Schulen und einen besseren Schutz des Personals in den Altersheimen. "Wir in Schweden glauben, wir sind besser als die anderen und müssen nicht auf die WHO hören. Das ist dumm."

"Schwedens Weg muss nicht falsch sein", meint Claus Wendt von der Universität Siegen, der die Hintergründe des schwedischen Sonderwegs analysiert hat. Das Land habe gute Voraussetzungen, der Pandemie zu begegnen. Die Schweden seien allgemein bei guter Gesundheit, es gebe wenig Armut und soziale Ungleichheit und die Gesundheitsdaten der Menschen seien erfasst. "Ein ähnliches Datenniveau, um die Entwicklung und Ausbreitung von Krankheiten im Zeitverlauf zu erfassen, ist für Deutschland nicht erhältlich", so Wendt.

Dass Schweden seine gute Ausgangsposition genutzt hat, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. In Norwegen und Dänemark hat man die Verbreitung des Virus nicht nur abgebremst, sondern unterdrückt - mit so großem Erfolg, dass die Schulen, Kindergärten, Friseure und Zahnärzte zumindest teils wieder öffnen können. Unklar ist auch, wohin der Weg der Schweden genau führen soll: Wenn Herdenimmunität das Ziel ist, dann ist das Land ein Stück weiter. Die Schweden könnten einer zweiten Viruswelle entkommen, Norwegen, Dänemark, Deutschland oder auch Österreich riskieren, ihr Land wieder schließen zu müssen, wenn sie nicht gewappnet sind.

Für den schwedischen Lungenspezialisten Lundbäck wäre eine solche neue Welle trotz allem aber das bessere Szenario. "Wir wissen nicht genug über eine mögliche Immunität", sagt er. "Aber wir wissen, dass wir im Herbst Medikamente zur Verfügung haben, die gegen das Virus helfen." Das Wichtigste sei, so viele wie möglich zu testen. Immerhin ist er da einig mit Tegnell und der schwedischen Regierung: Sie hat vor wenigen Tagen das Ziel angegeben, deutlich mehr Menschen testen zu lassen.

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