Einer wurde von Pochettino sogar zum "Supersuperheld" geadelt: Lucas Moura, eigentlich nur Lückenfüller für den verletzten Goalgetter Harry Kane, erzielte nach der 0:1-Hinspielniederlage und 0:2-Pausenrückstand alle Treffer der Spurs, den entscheidenden quasi in der letzten Sekunde. Mittelfeldspieler Christian Eriksen hoffte, "sie bauen ihm eine Statue in England", der 26-jährige Brasilianer selbst erlebte "den besten Tag meines Lebens".
Nach dem Abpfiff stürmten Trainerteam und Ersatzspieler der Spurs auf den Platz und feierten Moura. Pochettino sank ungläubig auf den Rasen und schlug die Hände vors Gesicht. "Die zweite Halbzeit war ein komplett verrücktes Spiel", sagte Tottenham-Stürmer Son Heung-min. "Drei Tore von Lucas sind einfach Wahnsinn!" Tottenham gelang am Mittwoch als erst zweitem Verein in der Historie der Königsklasse der Finaleinzug trotz einer Hinspiel-Niederlage zu Hause.
Nun trifft man am 1. Juni in Madrid auf den Premier-League-Rivalen Liverpool, der einen Tag zuvor gegen den FC Barcelona für einen ähnliche verrückten Abend gesorgt und ein 0:3 aus dem Hinspiel noch in ein 4:3 verwandelt hatte. In der aktuellen Premier-League-Saison gab es in den dirtekten Duellen zwei 2:1-Erfolge von Liverpool.
"Wir kennen sie sehr gut. Und sie haben gegen Barcelona gezeigt, welch gute Mannschaft sie sind", sagte Son. "Aber wir sind auch eine gute Mannschaft. Wir können und wollen Geschichte für diesen Verein schreiben." Tottenham stand noch nie zuvor in Meistercup oder Champions League im Endspiel, internationale Titel gab es bisher nur im Cup der Cupsieger (1963) und im UEFA-Cup (1972, 1984).
Für Ajax hingegen platzte der Traum vom siebenten Finale bzw. dem fünften Triumph in der Königsklasse jäh. Vielen Fans wird der 8. Mai 2019 als dunkler Tag in Erinnerung bleiben. Trotz einer glänzenden Saison, die mit atemberaubendem Fußball viel weiter führte, als die meisten es geglaubt hätten. Zu hart war der emotionale Verfall, den sie in der 96. Minute erlebten.
Sekunden vor der entscheidenden Szene ließen sich einzelne Spieler der Gastgeber sogar schon zu Jubelposen hinreißen, der erste CL-Finaleinzug seit 1996 schien sicher. Zwei Minuten später war das zweite rein englische CL-Finale nach 2008 (Manchester United - Chelsea) Gewissheit, fast alle Ajax-Kicker lagen regungslos auf dem Platz. "Als wir 30 Sekunden vor dem Ende Abstoß hatten, dachte ich, wir hätten es geschafft", betonte Mittelfeldspieler Lasse Schöne.
"Wir finden heute keine Worte für das, was da passiert ist", sagte Trainer Erik ten Hag, "und wir werden auch morgen keine finden." In der Kabine habe "Totenstille" geherrscht, bestätigte der erst 19-jährige Kapitän Matthijs de Ligt. "Niemand hat gesprochen. Es hat sich für uns alle angefühlt, als habe uns jemand den Boden unter den Füßen weggezogen." Auf die Frage, woran es gelegen habe, hatte der Schütze zum frühen Tor 1:0 (5.) nur eine lapidare Erklärung: "Das Spiel hat fünf Sekunden zu lange gedauert."
De Ligt und die jungen Wilden waren, nachdem sie in der zweiten Quali-Runde Sturm Graz eliminiert hatten, regelrecht durch den Wettbewerb geschwebt. Sie hatten Fußball-Europa verzaubert, dem europäischen Geldadel von Real Madrid und Juventus Turin in den Runden zuvor ein Schnippchen geschlagen. Nun aber ist Schluss, wohl endgültig. Denn die Truppe droht komplett auseinanderzufallen. Mittelfeldspieler Frenkie de Jong wechselt für 75 Millionen Euro zum FC Barcelona, weitere Topleute dürften folgen. "Was wir in dieser Saison geleistet haben, war ein Märchen", meinte De Jong. "Leider eines ohne Happy End."