SN.AT / Wirtschaft / Österreich / Wirtschaft

Europas Industrie rechnet - und wartet ab

Droht Europa wegen hoher Energiepreise die Deindustrialisierung? Es gibt laut Beratern dafür triftige Gründe, aber manches spricht dagegen.

Bei einem österreichischen Getränkehersteller machen Strom- und Gaskosten heute sechs Prozent vom Umsatz aus, verglichen mit zwei Prozent vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Die Hälfte vom bisherigen Ergebnis ist damit weg. Branchen wie Fasern, Papier, Chemie hatten schon bisher acht bis zehn Prozent Energiekostenanteil. Doch auch hier haben sich die Kosten verdrei- bis vervierfacht und fressen Löcher in die Bilanzen. Das nährt die Befürchtung, Europas Industrie könnte schleichend in günstigere Weltgegenden abwandern. Nicht mehr nur nach Asien, sondern auch in die USA. Dort kosten Gas und Strom derzeit etwa halb so viel wie in Europa, zudem winken nun Milliardensubventionen für "Green Investments".

"Es wird einfach gerechnet", sagt Walter Woitsch, Geschäftsführer der Syngroup, eines der aktivsten heimischen Industrieberater. Viele Unternehmen könnten nicht weg. Für Produkte wie Glas- oder Kunststoffgebinde, Ziegel oder Sand seien Lieferradien von 100 bis 150 km das Maximum, schränkt der Berater ein. "Die Transportkosten sind der Killer. Sie bedingen den Produktionsort, egal wie hoch die Energiekosten sind." Wienerberger werde Ziegel ebenso wenig aus China holen können wie der Kunststoffproduzent Alpla Flaschen für Vöslauer.

Wer in einem anderen Land in gleicher Qualität günstiger produzieren konnte, hat in den vergangenen Monaten schon Aufträge verschoben. Ganze Werke gingen in den "Stand-by-Modus", berichtete die Nachrichtenagentur Reuters vor Weihnachten. "Ob unser Kunde Indorama, der weltgrößte PET-Hersteller mit 19 Mrd. Euro Umsatz und 160 Fabriken weltweit, die Polyesterfaser für Airbags in Deutschland oder China fertigt, ist relativ egal", erklärt auch Woitsch. "Die legen einfach die Kostenrechnung an."

Ist kein günstiges Werk zur Hand, wo die Produktion einfach hochgefahren werden kann, warten Betriebe trotz des Kostenschubs ab. "Die sagen sich: ,Ich tauche für zwei, drei Jahre durch oder liefere bestimmte Teile nicht mehr'", sagt Woitsch. Vielen scheine die Lage angesichts der Coronapandemie und der globalen Spannungen zu unübersichtlich, um das Risiko eines Produktionsaufbaus - etwa in Asien - einzugehen. Das gelte auch für die USA: Rieseninvestitionen von staatlichen Subventionen oder Energiekosten abhängig zu machen, die in drei, vier Jahren ganz anders sein könnten, sei gefährlich. "Also machen die Betriebe mal gar nichts."

Förderungen sind aus Beratersicht wichtig, etwa um Unternehmen in einer Krise zu helfen oder neue Technologien anzustoßen. Die staatlichen Energiekostenzuschüsse in Deutschland und Österreich könnten kurzfristig verhindern, dass Aufträge verloren gingen. Als Mittel, "um einen Halbtoten am Leben zu halten", oder als Kriterium für eine Standortentscheidung taugten sie nicht, so der Syngroup-Chef. "Es ist immer ein zeitlich begrenztes Thema." Und: "Das sind ja keine Sozialbetriebe."

In der Praxis fallen Standortentscheidungen aber selten ganz neutral und rational. Damit Firmen 100 Mill. Euro in die Hand nehmen, um ein Werk auf der grünen Wiese zu bauen oder zu erweitern, braucht es mehr als nur günstigere Kosten. Da zählten immer auch "weiche Faktoren" wie Personalverfügbarkeit, Qualifikation, Sicherheit sowie - in Zeiten von Produktion ohne Lagerhaltung - nicht zuletzt die Nähe zu den Kunden. Oft spielten auch persönliche Sympathien eine Rolle. Entscheidend für die Industrie sei auch das Beschaffen der Rohstoffe, auf die rund die Hälfte der Kosten entfalle, sagt Woitsch. "Die machen meine Preise", besonders bei vergleichbaren Produkten.

Wohin es Europas und Österreichs Industrie nun ziehen wird? Die Syngroup nutzt mittlerweile einen Produktions-Footprint-Rechner, in den Kriterien für eine Verlagerung eingegeben werden und der zu einem betriebswirtschaftlichen Ergebnis kommt. "Es gibt einen entscheidenden Punkt: die zunehmende Automatisierung", sagt Woitsch. Die habe den Anteil des Faktors Arbeit in den vergangenen 20 Jahren um ein Drittel gesenkt, mit der Digitalisierung werde er noch kleiner.

Diese Entwicklung und der Energiepreisschub ermöglichen ungewöhnliche Wanderbewegungen: ein Autozulieferer, der von Tschechien nach Luxemburg geht, weil Geothermie und Photovoltaik die Energiekosten dort auf drei bis vier Prozent des Umsatzes halbieren und die Personalkosten wegen der hohen Automatisierung des Sektors nicht mehr ins Gewicht fallen. "Die Betriebswirtschaft ist gnadenlos und unemotional", sagt Woitsch. Energie sei in der Industrie zu einer relevanten Größe geworden.

Dass die USA nun versuchen, den Industriesektor mit Milliarden wieder aufzubauen - und die EU dagegenhält - , könnte bestenfalls Wettbewerb und Innovationen anfeuern. Komme es doch zu Abwanderung, "wird es ganz langsam gehen".

WIRTSCHAFT-NEWSLETTER

Abonnieren Sie jetzt kostenlos den Wirtschaft-Newsletter der "Salzburger Nachrichten".

*) Eine Abbestellung ist jederzeit möglich, weitere Informationen dazu finden Sie hier.

KOMMENTARE (0)