Zu "Bibel und Koran über Frieden" (SN vom 4. Jänner 2020):
Schaukämpfe zwischen christlichen und muslimischen Theologen unter dem Motto "Mein Buch ist viel netter als dein Buch!" halte ich prinzipiell für peinlich, und dazu kommt, dass auch die Ausgangsbasis ungleich ist: Während in unserem Kulturkreis jedermann Aussagen zur Bibel ohne Weiteres überprüfen kann, ist der Koran unter "Ungläubigen" hierzulande immer noch Terra incognita. Die meisten Menschen müssen daher die Behauptungen der Koranexegeten für bare Münze nehmen.
Der von den SN gerne konsultierte Mouhanad Khorchide hat, vereinfacht gesagt, die bisher gültige Koranexegese praktisch auf den Kopf gestellt: Im Allgemeinen gilt ja, dass viele Verse der mekkanischen Suren (diese sind häufig konziliant, weil der Islam damals noch in einer schwachen Position war) von den später verfassten, nämlich den medinensischen (als Mohammed die Macht erlangt hatte) "abrogiert", also aufgehoben werden. Der berüchtigte "Schwertvers" (Sure 9:5) zum Beispiel würde somit eine ganze Menge von "Friedensversen" abrogieren. Khorchide sagt aber, dass nur die mekkanische Botschaft theologisch relevant sei, wogegen die medinensischen Suren zu vielen Aspekten der muslimischen Lebenspraxis zeitbedingt und somit nur damals gültig waren. Die unorthodoxen Ansichten dieses sanften, freundlichen Mannes haben leider dazu geführt, dass er seit Jahren ständig unter Polizeischutz leben muss.
Auch viele seiner Auslegungen zu Einzelaspekten sind nur schwer nachvollziehbar - dazu nur ein Beispiel: Für Khorchide ist der Dschihad nur ein "Kampf gegen das Schlechte in einem selbst" (SN). Für Tilman Nagel, den Nestor der deutschen Islamwissenschaft, ist das reine Propaganda: Es gehe dabei ausschließlich um "Ausziehen in den Krieg" (siehe "Angst vor Allah", S. 362 f. usw.)
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