Leserbrief

Dank Hans Kelsen für die Verfassung

Zu "Die liberale Demokratie braucht ihre Zeit" (SN vom 29. 5. 2019):

Mit großem Vergnügen lese ich die Leitartikel von Chefredakteur Manfred Perterer, die literarisch-zeitgeschichtliche Miniaturen sind. Er hat Bundespräsident Van der Bellen großes Lob dafür ausgesprochen, dass dieser in einer politisch höchst brisanten Situation kühlen Kopf bewiesen hat. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Autorität des Bundespräsidenten wurde verhindert, dass sich eine Regierungskrise zur Staatskrise ausweiten konnte. Dass ein amtierender Bundeskanzler und dessen gesamtes Kabinett durch einen parlamentarischen Misstrauensantrag enthoben wurden und dadurch innerhalb von zwei Wochen drei Regierungen gebildet werden mussten, ist ein singuläres Ereignis in der Geschichte der Zweiten Republik.

Dass Bundespräsident Van der Bellen richtig, rasch und besonnen handelte, dankt er Hans Kelsen. Auf Wunsch von Karl Renner hat Kelsen 1920 - also vor 99 Jahren - die österreichische Bundesverfassung mit Weitblick konzipiert und Regierungsturbulenzen und deren Bewältigung antizipiert. Man spricht von der "Schönheit" der Bundesverfassung, was die großartige Leistung Kelsens unterstreicht.

Hans Kelsen war Philosoph, Jurist und Haupt der rechts-positivistischen "Wiener Schule". Diese vertritt die Reine Rechtslehre und basiert auf der These des positivistischen Rechtes ("positivistisch" leitet sich vom Lateinischen "ponere-positum" ab und heißt "gelegt, gesetzt, gestellt"). Nach dieser Theorie werden gesetzte Rechtsnormen dadurch garantiert, dass sie von der staatlichen Autorität vollzogen werden. Hans Kelsen war ein hervorragender Rechtslehrer, dessen Werke - "Hauptproblem der Staatsrechtslehre" (1911), "Vom Wesen und Wert der Demokratie" (1920) - in dieser Verfassung ihren Niederschlag gefunden haben. 1924/25 folgte die "Allgemeine Staatslehre". Daher gilt Perterers Dank de facto Hans Kelsen und dessen verfassungsjuristischem Können und Weltblick.

Obwohl getauft, musste Kelsen aufgrund seiner jüdischen Herkunft vor den Nationalsozialisten flüchten. Er fand Aufnahme in den USA und lehrte bis zur Pensionierung an der Universität Berkeley. Vor etwa zwei Jahren hat ein FPÖ-Mandatar des Parlaments, der hauptberuflich Rechtsanwalt ist, bei einer Veranstaltung einer Burschenschaft unter grölendem Beifall die jüdische Herkunft Hans Kelsens verhöhnt. Dies zeigt, dass auch nach der Shoah der Judenhass in hohem Maße in unserer Gesellschaft weiter existiert.

Hans Kelsen war ein typischer Repräsentant jener jüdischen Intelligenz, der Österreich und ganz Europa in kulturellen, künstlerischen und gesellschaftspolitischen Bereichen ungemein viel verdankte.
Es gilt das Nietzsche-Wort: "Was wäre Europa ohne die jüdische Intelligenz."

Diese Intelligenz wurde vertrieben und vernichtet! Viele Schwierigkeiten, in denen
Europa heute steckt, sind in diesem Zusammenhang eine Nemesis der Geschichte.

Prof. Dr. Fritz Rubin-Bittmann, 1020 Wien

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