Österreichs Neutralität ist nicht überholt, sondern nötig wie 1955, ja künftig sogar noch wichtiger. Als die Welt in Ost und West gespalten war, wollte jede Seite verhindern, dass sich ein souveränes Österreich der Nato oder dem Warschauer Pakt anschließt. Und jetzt: Bei der geopolitischen Polarisierung in das transatlantische und eurasische Lager haben durch autoritäre Staatschefs erpresserische Gewaltdrohungen und die Kriegsbereitschaft enorm zugenommen. Gerade deshalb wird Neutralität umso wichtiger! Aber sie darf nicht als bequemer Logenplatz falsch verstanden werden, denn der völkerrechtliche Status an sich gewährt keinen Schutz. Das Beispiel der Schweiz zeigt, dass Neutralität in Kriegszeiten nur ernst genommen und geachtet wird, wenn die Regierung schon in Friedenszeiten ihre Neutralität auf kompromisslose Weise lebt und konsequent für friedensstiftende Aktivitäten nutzt. Das sind Initiativen für Gespräche über Gefangenenaustausch, humanitäre Hilfen, Verhandlungen über Waffenstillstand bis zu möglichen Friedensgesprächen. Denn gerade in Zeiten schwerer politischer Vertrauenskrisen haben auch Kriegführende ein Interesse an Staaten, die ihnen Auswege aus gefährlichen Pattstellungen bieten, weil sie selber dazu nicht mehr in der Lage sind. Deshalb appelliere ich (als Experte der Schweizer Neutralität) an unsere Regierung: Nur wenn Österreich schon in Friedenszeiten eine umfassende und aufrichtige, proaktive Neutralitätspolitik betreibt, wie seinerzeit Bruno Kreisky, wird die Neutralität auch im Kriegsfall respektiert. Proaktive Neutralitätspolitik bedeutet vor allem, präventiv zu wirken, dazu beizutragen, die bestehenden Institutionen für internationale Kooperation (UNO, WTO, OSZE) zu nutzen, um gemeinsam Probleme zu lösen. Ein Neutraler muss darauf achten, wo sich kurzfristig "windows of opportunity" ergeben, um Repräsentanten verfeindeter Mächte (auch von Terrorregimen!) mit Pendeldiplomatie zu Gesprächen zu bewegen, indem Anstöße zum Umdenken gegeben werden, wie dies vor Kurzem die Außenministerin mit dem Treffen des israelischen und deutschen Außenministers in Wien getan hat. Anfänglich kleine Fenster können weiter aufgemacht werden und einen Prozess in Gang setzen. Dazu habe ich vor Kurzem über dreißig Möglichkeiten zur Diskussion gestellt. Würden wir nur einen Bruchteil des Geldes, das für Rüstung ausgegeben wird, für vermehrte diplomatische Initiativen nutzen, wäre uns und der Welt mehr gedient.