Leserbrief

Esel, streck dich!

Dieser Spruch aus einem Grimm'schen Märchen kommt mir in den Sinn bei all den gewichtigen Aussagen führender Industrie- oder Finanzkapazunder. Der Reihe nach: Ich fühlte mich bis kurz nach der letzten Nationalratswahl als Staatsbürgerin eines reichen Landes. Rund um meinen Lebensraum wurden Solaranlagen gebaut, die Autos mancher Nachbarn hatten plötzlich grüne Kennzeichen und Bekannte erzählten von Urlauben nach Japan oder Südafrika. Ein echtes "Tischlein deck dich" für eine gewisse Schicht unserer Gesellschaft (Mittelschicht?). Dann der Absturz: Wir müssen sparen, die Nation hat Milliarden Euro im zweistelligen Bereich weniger im Budget, als noch vom vorherigen Finanzminister versichert. In meinem Umkreis hörte ich die Wiederholungen der via Politik und Medien verkündeten schlechten Unkenrufe. Bei genauerem Hinhören und bei genauerer Betrachtung der Budgetverteilung kam ein bitterer Geschmack in meinen Mund. Dem Klimabonus weine ich nicht nach. Doch bei Verdreifachung des Pendlerpauschales hört sich bei mir der Spaß auf. Und Familien Einschränkungen aufzuerlegen sowie bei den Pensionistinnen und Pensionisten Beiträge zu erhöhen, finde ich keinen mutigen Sanierungsschritt. Dann sehe ich die vielen kleinen Esel vor mir, die noch keine umgebaute Heizung haben, sich keine Förderung für die Energiewende holen konnten oder noch immer kein Elektroauto kaufen können. Auf deren Rücken wird gedroschen und gebrüllt: "Esel, streck dich!" Und wir strecken uns, geben das letzte Geld für einen fünften Fernseher oder neue Schuhe aus und stützen so die Wirtschaft und Industrie. Jene, welche die letzten Jahre brav an Aktionäre und Vorstände abgeliefert haben. Wir geben das letzte Goldstück ab, damit wir Überschallflugzeuge kaufen und übertriebene Preise für Grundstücke oder Wohnungen bezahlen können. Der letzte Teil des Märchens heißt "Knüppel aus dem Sack". Wie und wo sich der bemerkbar machen wird, ist noch nicht ersichtlich.

Astrid Konzett, 1210 Wien

Aufgerufen am 11.09.2025 um 12:34 auf https://www.sn.at/leserforum/leserbrief/esel-179579740

Schlagzeilen