Leserbrief

Rotkäppchen und die Großmutter warten noch immer

Mit bewundernswerter Entschlossenheit hat das Land Salzburg nun zwei Wölfe zum Abschuss freigegeben. Es ging alles ganz schnell: DNA-Proben, Verordnung, Unterschriften - zack, zack, war der Wolf zum Abschuss freigegeben. Und das Schaf ist gerettet, zumindest symbolisch.

Doch während der Wolf aus dem Wald zur Gefahr erklärt wird, liegt die Großmutter weiter allein in ihrer Wohnung. Ohne Betreuung, ohne Besuch, ohne Unterstützung. Kein Jäger, kein Förster, kein Landesbeamter kümmert sich da. Und Rotkäppchen hat längst den Bus verpasst - es fährt nämlich keiner mehr am Abend in die entlegenen Ortsteile.

Wäre es nicht an der Zeit, die gleiche Energie, den gleichen bürokratischen Eifer und dieselbe mediale Aufmerksamkeit auch auf die wirklichen Herausforderungen unserer Gesellschaft zu lenken? Etwa auf die Pflege älterer Menschen, auf die Betreuung von Kindern in schwierigen Lebenslagen, auf die Unterstützung überforderter Familien?

Es braucht keine Wildkamera, um zu erkennen, dass das wahre Drama nicht im Wald spielt, sondern hinter verschlossenen Wohnungstüren und in unterbesetzten Sozialeinrichtungen. Ich schlage daher vor: Es wird höchste Zeit, dass das Wegschauen endlich ins Visier genommen wird. Und eine Soforthilfe für Rotkäppchens Großmutter. Die wartet nämlich noch immer.


Anja Hagenauer, 5020 Salzburg

Aufgerufen am 23.10.2025 um 06:47 auf https://www.sn.at/leserforum/leserbrief/rotkaeppchen-grossmutter-181491523

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