Leserbrief

Eine Diversion ist kein Freispruch

Ein Aspekt geht in der Diskussion zur Beendigung des Strafverfahrens in der Causa Wöginger völlig unter, nämlich dass es nicht nur den Täter, sondern auch gleich mehrere Opfer gibt.
Wenn für eine nachweislich weniger qualifizierte Person unsachlich, aber erfolgreich interveniert wird, gibt es eine andere Person, die damit vorsätzlich geschädigt wird. Diese hat sich im guten Glauben beworben, dass es bei einer Postenbesetzung ausschließlich um Leistung und Qualifikation geht. Sie hat sich tagelang mit dem Verfassen einer Bewerbung beschäftigt und erfährt am Ende, dass alles völlig sinnlos war, weil das Ergebnis längst festgestanden ist.
Geschädigt ist aber auch der Staat, der um die klügsten Köpfe in Leitungspositionen gebracht wird. Es macht eben einen großen Unterschied, wenn jemand nicht die geforderten Qualitäten in ein wichtiges Amt mitbringt. Ganz zu schweigen vom Frust, den die Belegschaft erdulden muss, wenn ein Amt jahrelang von einer zweitklassigen Person geleitet wird. Den Schaden hat aber auch die Bevölkerung, die sich die besten Leute in Spitzenpositionen verdient.
Auch die Mode gewordene Einbindung von Personalberatern hat offenkundig wenig gebracht, da sie nicht immer, aber sehr oft die Wünsche der Politik schon vorab kennen und allzu gerne auch erfüllen.
Eine Diversion ist juristisch kein Freispruch. Es gibt also überhaupt keinen Grund, jetzt zur Tagesordnung überzugehen.
Warum redet niemand von einer Neuausschreibung der Leitung des Finanzamtes Braunau? Von Schadenersatzforderungen an alle Beteiligten inklusive Personalberater, die bei einer offensichtlich geschobenen Sache aktiv oder passiv mitgewirkt haben? Oder gar von einer nachträglichen Untersuchung aller Postenbesetzungen der letzten Jahre, die mehr oder minder verdächtig nach Absprache riechen? Da gäbe es jetzt viel zu tun.
Wer von seiner Unschuld wirklich überzeugt ist, nimmt ein Diversionsangebot erst gar nicht an und kämpft um seine Reputation in der Hoffnung auf einen glatten Freispruch. Wer erleichtert meint, mit der Zahlung von 44.000 Euro alles erledigt zu haben, hat nicht einmal ansatzweise verstanden, worum es wirklich gegangen ist.

Prof. Dr. jur. Leopold-Michael Marzi, 1190 Wien

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