Leserbrief

Unabhängige Gerichtsbarkeit und der "Fall Anna"

In Österreich können Strafgerichte nur tätig werden, wenn Anklage erhoben wird. Es gilt: Wo kein Kläger, da kein Richter. Und Anklagebehörde ist die Staatsanwaltschaft. Wenn die untätig bleibt, gibt es kein Gerichtsverfahren (von Beleidigungen und Fällen abgesehen, wo der Geschädigte ein Klagerecht hat).
Und außerdem darf das Gericht eine Tat, einen Sachverhalt nur im Rahmen der rechtlichen Beurteilung der Staatsanwaltschaft seiner Entscheidung zugrunde legen. Wenn die unrichtig erfolgt, dann ist das Gericht daran gebunden und dann wird auch das richterliche Urteil fehlerhaft sein. Das Gericht kann also nicht (mehr wie früher) die Tat, den Sachverhalt frei rechtlich beurteilen und dabei andere Rechtsvorschriften anwenden als die von der Staatsanwaltschaft vorgegebenen.
Und das ist jetzt im "Fall Anna" eine Problematik, die noch einer Prüfung durch den Obersten Gerichtshof unterzogen wird.
Diese erwähnte Vorschrift stellt eine bedeutende Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit dar. Und sie ist offensichtlich eine bewusste Maßnahme einer Regierung, die sich mithilfe der ihr weisungsmäßig untergeordneten Staatsanwaltschaft Kontrolle über die (Straf-)Gerichtsbarkeit behalten will. Die Auswirkung: vom Opferschutzrecht (Opfer ist bei vielen Taten die Gesellschaft als Ganzes) zum Täterschutzrecht. Resozialisierung der Täter geht über alles, selbst wenn da die Rechtssicherheit und der Glaube an eine unabhängige Justiz schwer geschädigt wird.
Nur mit einer Gesetzesreform könnte die gerichtliche Unabhängigkeit wieder auf ein Niveau gebracht werden, wie wir es schon hatten.

Dr. Peter F. Lang, 1200 Wien

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