Eine Reise ins Dorf der Salzburger Bettler

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Eine Reise ins Dorf der Salzburger Bettler, ein Lokalaugenschein von Michael König, Geschäftsführer des Diakoniewerks Salzburg, reiste im Sommer 2014 nach Rumänien. Er kam mit teils überraschenden Erkenntnissen zurück.

Das Dorf Pauleasca in Südrumänien

Ende Juli 2014 besuchte ich im Zuge einer längeren Rumänien-Reise das Dorf Pauleasca in Südrumänien. Da wir wissen, dass eine größere Zahl von Notreisenden, die in Salzburg bettelt, aus Pauleasca kommt, wollte ich speziell in dieses Dorf. Es liegt 130 Kilometer nordwestlich von Bukarest, in der Nähe der industriell geprägten 180 000-Einwohner-Stadt Pitesti.

Mein Besuch begann im Gemeindeamt von Micesti, zu dem das Dorf Pauleasca gehört. Ich schildere hier die erste Kontaktszene, weil sie bezeichnend für ein spezifisches Klima im Land ist. Ich war mit dem Sozialarbeiter der Gemeinde verabredet. Dieser verspätete sich etwas, sodass ich zuerst mit einer anderen Mitarbeiterin ins Gespräch kam.

Nachdem ich kurz erklärt hatte, dass ich diese Gemeinde besuche, weil offenbar viele Menschen aus Pauleasca zum Betteln nach Salzburg kommen, sagte die Frau in einem spürbar gereizten Tonfall an meine Dolmetscherin gerichtet: "Ich würde auch gern Betteln nach Salzburg kommen."

Während meiner weiteren Reise bekam diese Szene deswegen eine Bedeutung, weil mir sukzessive immer klarer wurde, wie arm die Durchschnittsbevölkerung in Rumänien tatsächlich ist. Ein Sozialarbeiter, Lehrer oder Arzt verdient zwischen 200 und 350 Euro monatlich, bei Lebenshaltungskosten, die in vielen Bereichen so hoch sind wie in Österreich.

Das bedeutet, dass viele Menschen zusätzliche Einkommen finden müssen, um zu überleben. Wer einen Monat in Österreich bettelt, kann so unter Umständen sogar mehr verdienen als ein Arzt in Rumänien. Das führt unweigerlich zu enormen sozialen Spannungen innerhalb jener Bevölkerungsgruppen, die zu den Ärmsten gehören.

Bevor wir mit dem Sozialarbeiter dann in das Dorf Pauleasca aufbrachen, kamen wir mit ihm auf die allgemeine Situation der Roma in seinem Dorf zu sprechen. Er weiß, dass Dorfbewohner zum Betteln nach Salzburg fahren. Diese müssten sich eigentlich sogar abmelden, da sie während dieser Zeit die Sozialhilfe (zirka 25 Euro pro Monat) nicht beziehen dürften. Die wenigsten würden das allerdings tun. Der Sozialarbeiter konnte uns nicht sagen, wie viele Menschen in seiner Gemeinde Roma seien, da es dazu keine Auskunftspflicht gebe. Er schätzt, dass es zirka 300 Roma sein könnten. Wie fast überall in Rumänien leben diese nicht im Dorf, sondern am Dorfrand.

Unterstützungsversuche habe es gegeben, so der Sozialarbeiter, diese seien aber ohne Erfolg gewesen. Man habe einigen Roma des Dorfes beispielsweise neue Häuser gebaut, diese wollten sie dann aber nicht beziehen. Man habe ihnen Material für den Bau ihrer Häuser gegeben: Dieses verkauften sie jedoch weiter, um so zu Geld für Nahrung zu kommen. Ähnliche Erzählungen hörte ich bei meiner neuntägigen Rumänienreise übrigens oft - und dies von Menschen, die jeglicher Roma-Ressentiments unverdächtig waren.

Woran die Hilfsangebote genau gescheitert sind, konnte ich in diesem ersten Gespräch nicht wirklich herausfinden. Da gibt es vieles, was wir ohne geschichtliches und soziokulturelles Hintergrundwissen nur schwer einordnen können. Die Gefahr ist groß, hier mit raschen Erklärungsschablonen bekannte Stereotype und Vorurteile zu wiederholen.

Der Sozialarbeiter bestätigte auch, was ich oftmals hörte und als die eigentlich gefährdende Entwicklung für das Land ansehe: Ärzte, Pfleger und Fachkräfte verlassen wenn irgendwie möglich das Land. Temporär oder dauerhaft. Zwei Millionen Rumänen arbeiten derzeit im Ausland. Tendenz steigend. Ein Erntearbeiter in Deutschland verdient das Vielfache eines Arztes in Rumänien. Es ist damit aus einer individuellen Perspektive zwar mehr als verständlich, wenn sich jemand entscheidet, das Land zu verlassen, im Blick auf die rumänische Gesellschaft ist das jedoch eine alarmierende Entwicklung.

Wir brachen dann bei einsetzendem Regen nach Pauleasca auf. Das Dorf zieht sich geschätzt zehn Kilometer einen kleinen Flusslauf entlang. Die Asphaltstraße endet nach einigen Kilometern und geht in eine Schotterstraße, diese später in eine vom Hochwasser völlig ausgeschwemmte Geröll- und Schlammpiste über. Zum sechsten Mal wurde Pauleasca dieses Jahr von einem Hochwasser getroffen.

Und dann trafen wir sie tatsächlich: Die Männer und Frauen, die nach Salzburg betteln kommen. Zum Beispiel eine Frau, die schon mehrere Male in Salzburg war, und ihre Familie. Wir durften ihre gemauerte Unterkunft besichtigen: Ein kleiner aufgeräumter Raum mit Bett und Ofen und ein winziger Nebenraum mit einer weiteren Schlafgelegenheit. Kein Fließwasser, kein Tisch, keine Schränke, keine Toilettenanlage, auch nicht im Freien, keine Lebensmittel, auch kein Gemüseanbau auf dem Grundstück, auf dem ihr Häuschen steht. Die Frau sagte uns, dass sie eine Operation an der Leber brauche. Sie könne sich diese jedoch nicht leisten und in Salzburg wolle sie diese nicht machen lassen. Sie möchte hier im Dorf sterben.

Sie sprach damit an, was ein großes und zunehmend größeres Problem speziell der verarmten Rumäninnen und Rumänen sein dürfte: Ohne private Zusatzzahlung an den Arzt gibt es de facto keine Behandlung im Krankenhaus.

Ein Ehepaar mit einem kleinen, neu gebauten, nett gestalteten Häuschen gegenüber erzählte uns, dass sie beide für drei Jahre als Erntearbeiter in Deutschland gelebt hätten und dann auch einmal zum Betteln nach Salzburg gekommen seien. Der Großteil der Roma findet keine Arbeit, nicht nur in Pauleasca.

Wir stiegen nach einiger Zeit in einen Jeep um und fuhren dann entlang und durch den Bach weiter in das Dorf hinein.

Was nun folgte, überstieg das für mich Vorstellbare, weil hier nicht mehr Armut, sondern pures Elend sichtbar wurde

Was nun folgte, überstieg das für mich Vorstellbare, weil hier nicht mehr Armut, sondern pures Elend sichtbar wurde: Wir trafen eine durch einen Unfall am Fuß schwer verkrüppelte und wohl nach dem Unfall unbehandelte Frau mit einem schiefen Beinstumpf; Menschen, die unter Planen schlafen, weil ihre Behausungen vom Regen weggeschwemmt worden sind; Schlamm, Geröll, gar nicht oder schlecht befestigte Wege.

Man schätzt, dass allein in Rumänien weit über eine Million Menschen völlig verarmt und ohne Aufstiegsperspektive lebt. Sie zählen zu den absoluten Kapitalismusverlierern nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten.

Schließlich trafen wir bei unserem Besuch im Dorf Pauleasca noch eine weitere Frau, die mit ihrer Schwester schon öfter in Salzburg betteln war. Wir ließen uns ihre Wege nach Salzburg schildern, ihre Beweggründe, ihr Empfinden. Betteln ist für sie entwürdigend und sehr bitter, aber die allerletzte Chance, etwas für ihren Lebensunterhalt zu verdienen und nicht stehlen gehen zu müssen. Vor allem das Heimweh nach ihrem Sohn schmerze sie. Ich habe keinen Anlass, ihr diese Worte nicht zu glauben.

Wäre ich mir nicht schon vor meiner Reise sicher gewesen, jetzt bin ich mir ganz gewiss: Diese Bettler kommen zu uns, weil sie um ihr Überleben kämpfen. Niemand zwingt oder treibt sie, außer die ungeheure Not. Sie erleben das Betteln allerdings als Erniedrigung und Entwürdigung, sie leiden unter der Trennung von ihrer Familie. Aber sie tun es trotzdem. Wer mit diesen Menschen hier gesprochen hat und sich ihre Reise nach Salzburg, Wien oder Schweden (!) schildern lässt, dem erscheint es absurd, wenn wir in Österreich diese unwürdige Bettlerabwehrschlacht mit ständig sich wiederholenden "organisierten Bandenvorwürfen" und Kriminalisierungsbehauptungen erleben müssen. Mag sein, dass es auch diese Phänomene gibt. Unverdächtige Kenner der rumänischen Situation, auch selbstkritische Angehörige der Roma, sagen und schreiben, dass es sehr wohl auch Formen des Bettelns gebe, bei denen Menschen von Clanführern zum Betteln im Ausland gleichsam gezwungen würden. Aber selbst wenn es diese Phänomene gibt, sind die betroffenen bettelnden Menschen als Opfer und nicht als Täter zu sehen!

Wachsamkeit ist daher angesagt. Und ein offensives In-Kontakt-Treten mit den Bettlern unserer Städte. Sie gehören raus aus der Anonymität. Dann ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass man einem Bettler Geld gibt, der dieses jemandem abliefern muss. Klar sollte sein: Solange die Not sie in unsere Städte treibt, müssen wir - ohne Sozialromantik - mit diesen Menschen einen humanitären Umgang finden.

Können wir etwas für die Menschen in Pauleasca tun?

Wir planen seitens des Diakoniewerks einen Folgebesuch, um diese Frage mit den Menschen vor Ort zu erörtern. Dabei sollen auch konkrete Möglichkeiten der Unterstützung und Hilfe erarbeitet werden. Schnelles Handeln bringt hier wenig. Es geht um Nachhaltigkeit. Viele Hilfsprojekte sind in den letzten Jahren in Rumänien gescheitert. Auch das habe ich bei meiner Reise mehrfach gehört. Wenn es beispielsweise an dem Bewusstsein fehlt, warum eine Schulbildung wichtig ist, dann nützt es nichts, wenn man einer Kommune einen Schulbus kauft, wenn dann erst die Schulhefte der Kinder von deren verarmten Eltern als Brennmaterial verwendet werden. Es nützt nichts, nahrhafte Lebensmittel zu liefern, wenn die Menschen kein Gemüse in ihren Gärten anbauen, weil sie kein Geld für das Saatgut haben oder weil manche verarmten Menschen diese Kulturtechnik und mehr noch das dahinterliegende Verständnis, für ein Morgen vorzusorgen, nie gelernt haben. Die Situation der verarmten und im Elend lebenden Menschen in Rumänien ist nicht vergleichbar mit dem Schicksal von Menschen, die durch eine Naturkatastrophe ihr Hab und Gut verloren haben. Denn was diese Menschen nicht verloren haben, ist Wertschätzung, Schaffenskraft, Bildung, soziales Netzwerk, Zukunftsglaube.

Das alles haben Millionen an verarmten Rumänen bzw. südosteuropäischen Bürgern nicht mehr, nur rudimentär - oder sie haben es noch nie gehabt. Wenn auf diese Entwicklung nicht mit einer Art sozialem europäischen Marshallplan reagiert wird, entsteht sozialer Sprengstoff mit europäischer Dimension. Ich glaube daher, dass wir uns noch viel mehr mit Rumänien und seinen Menschen beschäftigen müssen, schon allein aus einer europäischen Perspektive heraus.

MMag. Michael König ist Geschäftsführer des Diakoniewerks Salzburg und Mitglied der Plattform für ArmutsmigrantInnen www.armut-hat-platz.at. Sein gesamtes Reisetagebuch "Besuch bei den Notreisenden aus Pauleasca/Rumänien" soll auf www.salzburg.com veröffentlicht werden (Stand 26. August 2014 war es noch nicht online)

Quelle