"Brechen wir aus!" Leokadia Justmann.
Buchtipp "Brechen wir aus!" Leokadia Justmann. Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol. Eine autobiografische Überlebensgeschichte.
- Autor:
- Herausgeber: Niko Hofinger und Dominik Markl
- Übersetzung: Aus dem Englischen von Brigit Salzmann und Susanne Costa
- Verlag: Verlagsanstalt Tyrolia Gesellschaft m.b.H., Innsbruck, Tirol
- Erscheinungsjahr: 2025
- ISBN 978-3-7022-4275-6
Verlagsinformation
Leokadia Justman überlebte als Jugendliche die grausame Verfolgung durch die Nationalsozialisten in Polen. Nach der Flucht aus dem Warschauer Ghetto nahm ihre Mutter die Deportation nach Treblinka auf sich, um das Leben der Tochter zu retten. Mit ihrem Vater gelang die Flucht nach Tirol. Dort lebten sie unter falschen Identitäten, bis sie an die Gestapo verraten wurden. Nach der Ermordung ihres Vaters im Lager Reichenau in Innsbruck entkam Leokadia mit einer Freundin aus der Haft und versteckte sich in Innsbruck. Unterstützt von mutigen Personen, überlebte sie die letzten Kriegsmonate in der Region von Lofer. Dieser erstmals ins Deutsche übersetzte autobiografische Bericht gibt einen seltenen, authentischen Einblick in das Leben und Überleben als Jüdin in Tirol während der NS-Zeit.
Die Autorin
Leokadia Justman, später Lorraine Justman-Wisnicki (* 7. Mai 1922 in Piątek), aufgewachsen in Łódź, flieht 1943 mit ihrem Vater und gefälschten Papieren nach Tirol und Salzburg. Sie überlebt und schreibt gleich nach dem Krieg ihre Rettungsgeschichte nieder. 1946 Heirat mit Józef Wiśnicki in Innsbruck. 1950 Emigration nach New York; zwei Kinder. Die Autorin stirbt 2002 in Palm Beach, Florida.
Die Herausgeber
Niko Hofinger, geboren 1969 in Innsbruck. Studium der Politikwissenschaft und Geschichte (nicht abgeschlossen). Ab 1999 selbstständig als Programmierer und Ausstellungskurator, seit 2019 auch halbtags im Stadtarchiv Innsbruck. Wissenschaftliche Publikationen zu Tiroler Nachkriegspolitik und jüdischer Regionalgeschichte, ein Roman.
Dominik Markl, geboren 1979 in Innsbruck, ist Jesuit und Professor für Hebräische Bibel und Altes Testament an der Universität Innsbruck. Zuvor lehrte er in Rom, Washington DC, Berkeley, London und Nairobi. Er forscht zur Religionsgeschichte des Monotheismus, politischer Ideengeschichte, Traumatheorie, Diskursen der Massengewalt und Holocaust.
Kurzbiografie von Józef Wiśnicki
Józef Wiśnicki (* 2. Oktober 1916 in Czenstochau; † 24. April 2016 in Palm Beach, Florida, USA). Den deutschen Überfall auf Polen erlebte er als polnischer Soldat und floh schließlich nach Lemberg. Von dort kehrte er nach Czenstochau zurück. Als er 1942 deportiert wurde gelang es ihm aus dem Zug zu fliehen. Er floh aus Polen, nahm eine arische Identität an und wurde Fremdarbeiter in einer Gärtnerei in Bludenz in Vorarlberg. Mehrmals wurde er verhaftet und schließlich kurz vor dem Kriegsende ins KZ Reichenau in Innsbruck überstellt, wo er die Befreiung erlebte. 1946 heiratete er in Innsbruck die Überlebende Leokadia Justmann. Es war die erste jüdische Hochzeit in Tirol nach dem Krieg.
Rezension 1
- Eine eindrucksvolle, dramatische Fluchtgeschichte, spannend geschrieben und hervorragend recherchiert
Der Inhalt
Die 19jährige Leokadia Justman freute sich auf den Schulbeginn ihrer neunten Klasse Anfang September 1939, da überfiel Hitler Polen. Die junge Frau erlebte einen Angriff der Stukas, bei dem ihre Großmutter hilflos in einem Haus verbrannte. Die Familie zog in ein Dorf. Dort kam dann zu Beginn des Winters 1941/1942 der Befehl, alle Pelze – Mäntel und Schuhe – abzugeben. Und eines Morgens im Oktober 1942 wurden alle Juden des Dorfes zum Bahnhof getrieben, wo sie ihre Schuhe ausziehen mussten – "Wo ihr hinfahrt, braucht ihr keine Schuhe". Ein Hauptsturmführer der SS fuhr mit seinem Wagen vor und rief bei seiner Abfahrt, schon der Griff der Autotür in der Hand, voll Verachtung: "Weg mit der Scheiße"!
20 Personen wurden ausgewählt, die mit ihren Frauen bleiben durften, um die Wohnungen der Juden auszuräumen. Alles wurde versteigert. Ihr Vater war einer der Auserwählten und durfte seine Frau mitnehmen.
Ein entscheidender Moment: Ihre Mutter entschied sich, anstelle ihrer Tochter Leokadia in den Zug zu steigen, der alle ins Vernichtungslager Treblinka brachte. Mutter Zophia (Sofia) entschied, dass Leokadia mit ihrem Vater zusammen eine Überlebenschance hat. Zophia Justman starb im Oktober 1942 in Treblinka.
Was ab dem Zeitpunkt dieser Trennung mit Vater und Tochter geschah, schildert Leokadia Justmann auf den folgenden rund 270 Seiten des Buches. Es sind schreckliche, unvorstellbare Erniedrigungen, Todesängste und immer wieder Fluchten. Schließlich kann Leokadia mit ihrem Vater und ein paar anderen Polen mit gefälschten Papieren aus dem Ghetto Piotrków Trybunalski fliehen. Es war das erste im besetzten Polen errichtete NS-Sammellager im Rahmen der Judenvernichtung.
Die Flucht bringt die kleine Gruppe nach Tirol, zunächst verstreut in Seefeld und Innsbruck, schließlich alle zusammen in Innsbruck. Leokadia und ihr Vater arbeiten gemeinsam in einer Fabrik, bis die kleine Gruppe aufgrund einer Reihe unglücklicher Umstände von einem Ukrainer aus dem damals polnischen Lwiw (deutsch Lemberg) verraten wurde. Im März 1944 wird Leokadia von der Gestapo verhaftet und kommt ins Polizeigefängnis von Innsbruck. Es folgen zermürbende Monate der Hoffnung und der Angst, in eines der Vernichtungslager in Deutschland transportiert zu werden. Sie erlebt Mitgefangene, die gefoltert und geschlagen in ihre Zelle kommen, wie eine standhafte Nazi-Frau, die jedoch ebenfalls in Haft in ihrer Zelle war, sie umbringen wollte.
Doch in diesen Tagen finden sich drei Polizisten, die versuchen, Leokadia vor dem Abtransport zu bewahren. Sie kann in der Küche arbeiten, wo sie kurz vor dem geplanten Abtransport ihrer Freundin Marysia Fuchs und ihr noch einmal alles auf eine Karte setzt - sie fliehen im Jänner 1945 aus dem Polizeigefängnis, das an einer Seite durch Bomben zerstört war. Sie haben Adressen dieser Polizisten, die sie versteckten, dazu kamen noch drei Frauen, die den beiden helfen. Die beiden Polinnen erhalten noch einmal eine neue Identität und Papiere und reisen nach Zell am See.
Das Arbeitsamt vermittelt ihnen Arbeit im Raum Lofer. Leokadia kommt in die Villa Eva-Marie in Lofer zu Clementine Machatschek, einer eingefleischten Nationalsozialistin, die immer noch an Hitler und den "großen Endsieg" glaubt. Sie wirft Leokadia bald hinaus, weil sie ihr das Essen neidig ist – trotz voller Vorratskammern, wie Leokadia als Hausmädchen sehen konnte. Wohl aber auch aufgrund einer Verleumdung eines serbischen Kriegsgefangenen, der in der Villa als Hausmeister arbeitet und dessen Zudringlichkeit und Wunsch nach Sex Leokadia zurückwies. Nun soll sie sich in Zell am See in einem "Sammellager" melden. Verzweifelt sucht Leokadia einen Ausweg, da sie wusste, dass alle Ausländer in diesem Sammellager letztlich in ein Vernichtungslager deportiert werden. Sie geht zu einer Freundin, die ebenfalls in der Nähe lebt. Und diese vermittelt sie an Leopold Wintersteller, Pfarrer in St. Martin bei Lofer, der ihr Zuflucht gewährt.
"Herr Pfarrer", sagt die junge Frau zögerlich. "Ich bin aus dem Gefängnis geflüchtet. Ich bin eine Verbrecherin, ich bin Jüdin." Die Reaktion des Pfarrers überrascht sie, wie sie in ihren Erinnerungen festhält: "Christlchen, du bist keine Verbrecherin. Diese Bezeichnung konnten dir nur die echten Verbrecher geben." Sie sei ein Mensch und sie alle seien Kinder des gleichen Gottes. Leokadia nannte sich in ihren Papieren Krystyna Chruscik.
Vor dem Pfarrhof erlebt Leokadia – Christl dann den Einmarsch der amerikanischen Soldaten. Der Krieg war zu Ende. Sie geht nach Innsbruck zurück, um nach ihrem Vater zu forschen und erfährt, dass er bereits im April 1944 im Lager Reichenau in Innsbruck ermordet worden war. Sie gründet eine Vertretung der Juden in Innsbruck, lernt ihren Mann kennen und geht nach ihrer Heirat in Innsbruck mit ihm in die Vereinigten Staaten von Amerika.
Über das Buch
Martin Thaler, der als Fünfjähriger Leokadia kennengelernt hatte, als sie mit ihrem Vater bei seinen Eltern in der Nähe von Innsbruck wohnte, wandte sich 2018 an seinen alten Bekannten Niko Hofinger. Er bat ihn, den Erinnerungen und Erzählungen nachzuforschen. Hofinger kam dabei auf den Sohn von Lorraine Justman-Wisnicki, wie Leokadia verheiratet hieß, Jeffrey Wisnicki. Dieser verwahrte vier Haupttexte von seiner Mutter mit ihrer Fluchtgeschichte, in hebräischer und englischer Sprache. Hofinger und sein Team ließen die Texte übersetzen begannen nun akribisch alle Fakten und Namen, die sie in diesen Dokumenten fanden, zu überprüfen. So konnten viele Personen identifiziert und viele Details hinsichtlich ihrer historischen Zuverlässigkeit verifiziert werden.
2025, am 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz wurden Justmanns Erzählung im Tiroler Landhaus vorgestellt und zugleich eine begleitende Ausstellung über Leokadia Justmann eröffnet. Beim Lesen des Buches erlebte ich durch die spannende sprachliche Ausdrucksform die Ängste und Sorgen von Leokadia, die grauenhaften Momente von ihr und glückliche kurze Zeitabschnitte, ihren Mut, ihre Entschlossenheit zu fliehen und ihre Intelligenz, die sie zum Überleben immer wieder einsetzte. Die sehr guten Beschreibungen von Stimmungen und Ereignissen ließen die Worte in meinem Kopf zu Bildern werden, wenngleich sehr oft zu traurigen.
Die beiden Autoren haben in 368 Fußnoten Kurzbiografien aller im Buch vorkommenden Personen recherchiert. Das Personen- und das Orte-Register umfassen drei Seiten zweispaltig. Eine zweiseitige Zeittafel gibt einen detaillierten Überblick aller Ereignisse von 1. September 1939 bis 16. September 1946, dem Tag der Hochzeit von Leokadia mit Józef Wiśnicki.
Die Erzählungen von Leokadia Justmann zeigen ein anschauliches Bild von den skrupellosen Aktionen der Gestapo und ihrer Gehilfen, von den Todesängsten und der Abstumpfung der Menschen in ihren Fängen. Und vom uneingeschränkten Gehorsam und Glauben an Hitler.
Rezension 2
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Weblinks
- tirol.orf.at, Zeitgeschichte: "Brechen wir aus!" – Flucht vor den Nazis (mit Bildern)
- www.tirol.gv.at, Eröffnung der Ausstellung "Leokadia Justman. Brechen wir aus!"
- ueber-die-grenze.at "Józef Wiśnickis Fluchten"
Quelle
- Rezension 1 von Peter Krackowizer