Der Humor als abmilderndes Momentum der surrealen Geschichte entfällt im 2007 uraufgeführten Stück der gebürtigen Südkoreanerin Chin über weite Strecken. Und Regisseurin Elisabeth Stöppler doppelt diese dunkle Tonalität der Musik bei ihrem Hausdebüt noch. Zu Beginn stürzt ein Alice-Alter-Ego an Seilen gehalten aus dem Schnürboden - die im Roman angelegte Verankerung in der Realität entfällt hier. Stattdessen wird der psychedelische, wie durch Substanzkonsum evozierte Charakter des Stücks ins Surreale getrieben.
Gras und Industriallook
Apropos Gras: Eine Grashügellandschaft dient auf der stetig rotierenden Drehbühne anfangs als auenlandartiger Hindernisparcours. Am Hof der Herzkönigin weicht auch noch diese letzte Lieblichkeit gänzlich kaltem Industriallook, während ein Börsenlaufband mit dem englischen Librettotext für Dynamik sorgt. Dieses Setting ermöglicht durchaus variable, schnelle Konstellationswechsel, die "Alice in Wonderland" verlangt, hat Unsuk Chin das Werk doch gleichsam als Szenenrevue angelegt.
Die aufeinanderfolgenden Sequenzen zeigen sich dabei auch musikalisch versatil. Von elektronischem Hauchen über Percussioneruptionen, vom barocken Cembalointermezzo bis zu modulierten Kinderreimen reicht das stilistische Angebot. Stampfende Schicksalsschläge geben mal den pulsierenden Rhythmus vor, der dann wieder durch Geigenläufe im Prokofjew-Gestus abgelöst wird. Mal blitzen kurze Minimalismusanspielungen hervor, mal ein aufgewühltes Lärmorchester. Und dann wieder hat Teresa Doblinger als Raupe ein minutenlanges Bassklarinettensolo.
Ein Amalgam, kein Potpourri
Dabei wirkt das Gesamtgeschehen durchaus als Amalgam, nicht als Abfolge unterschiedlicher Stilistiken. Die Gesangslinien gehen über den bloßen Sprechgesang hinaus, weisen hie und da gar Melismen auf, die vom in toto hervorragenden Ensemble ausgekostet werden. Álfheiður Erla Guðmundsdóttir hat mit ihrem gülden-schweren Soprantimbre so gar nichts Kindliches als Alice und stützt damit den interpretatorischen Ansatz. Ebenfalls ihr Hausdebüt feierte Juliana Zara als Grinsekatze - und die amerikanische Sopranistin empfiehlt sich ebenso für weitere Engagements wie Ben McAteer als Hutmacher.
Hinzu kommen die zwei ausgewiesenen musiktheatralen Urviecher Marcel Beekman als Maus und Andrew Watts als Kaninchen. Und der Arnold Schoenberg Chor ist letztlich ebenso im Volleinsatz wie die jungen Damen der Gumpoldskirchner Spatzen, die das tierische Tableau auf der Bühne vervollständigen.
Am Ende ist durchaus verständlich, weshalb sich die erste Oper der heute 64-jährigen Unsuk Chin seit ihrer Uraufführung zum Erfolgsstück gemausert hat. Und dennoch stellt die Deutung der im Vorjahr mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichneten Komponistin zweifelsohne harten Tobak dar - was so gesehen ja wieder zum rauschartigen Charakter des Werks passt.
(Von Martin Fichter-Wöß/APA)
(S E R V I C E - "Alice in Wonderland" von Unsuk Chin im Musiktheater an der Wien, Linke Wienzeile 6, 1060 Wien. Musikalische Leitung des RSO: Stephan Zilias, Inszenierung: Elisabeth Stöppler, Bühne: Valentin Köhler, Kostüm: Su Sigmund. Mit Alice - Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Weißes Kaninchen/Märzhase/Dachs - Andrew Watts, Maus/Pat/Haselmaus/Köchin/Unsichtbarer Mann - Marcel Beekman, Herzogin/Eule - Helena Rasker, Grinsekatze - Juliana Zara, Herzkönigin - Mandy Fredrich, Verrückter Hutmacher/Ente - Ben McAteer, Alter Mann I/Junger Adler/Fisch-Lakai/Falsche Suppenschildkröte/Herzbube - Henry Neill, Alter Mann II/Hummer/Frosch-Lakai/Herzkönig - Levente Páll, Dodo/Sieben/Scharfrichter - Damien Pass. Weitere Aufführungen am 19., 22., 24. und 26. November. www.theater-wien.at)
(Quelle: APA)
