SN.AT / Kultur / Literatur

Dimitré Dinev: "Wenn ich schreibe, muss es um alles gehen"

"Engelszungen" hieß das 600-seitige Werk, mit dem Dimitré Dinev 2003 sein fulminantes Romandebüt gab. Der gebürtige Bulgare, der 1990 mit einem Freund aus der Armee über die grüne Grenze nach Österreich geflüchtet war, erzählte darin schillernde Geschichten der Familien Apostolov und Mladenov und beschrieb Wien aus den Augen zweier Zuwanderer. 22 Jahre später bringt er einen Roman heraus, der fast doppelt so dick ist. Am 14. September stellt er die "Zeit der Mutigen" vor.

Dimitré Dinev hat 13 Jahre an seinem neuen Roman geschrieben
Dimitré Dinev hat 13 Jahre an seinem neuen Roman geschrieben

Mut habe es zum Schreiben des Buches durchaus gebraucht, denn er habe es gleich als großen, zumindest als umfangreichen Wurf angelegt, schildert der Autor im Interview mit der APA: "Ich wollte wissen: Schaffe ich es, die Spannung über 1000 Seiten zu halten? Das ist für mich die höchste Kunst. Man braucht große Herausforderungen! Wenn ich schon schreibe, muss es um alles gehen. Für weniger setze ich mich gar nicht erst hin", lacht er mit der Lockerheit dessen, der erfolgreich durchgehalten hat.

"Wer hat schon gerne 13 Jahre lang Gäste?"

"13 Jahre daran schreiben - das muss man erst mal aushalten! Ich hab ziemlich schnell kalte Füße bekommen, denn nach 600 Seiten wusste ich: Es liegt noch ein Abgrund vor mir, voller Dunkelheit. Man macht ja in so einem Text Versprechungen, die man einlösen muss. Und die Figuren sind ja Gäste in meinem Leben - aber wer hat schon gerne 13 Jahre lang Gäste? Aber du musst lernen, sie weiter zu lieben. Das ist schon eine Übung in Menschlichkeit, fast wie im Kloster."

Um Menschlichkeit und Unmenschlichkeit kreist das ganze Buch. "Ich habe lange gedacht, das Buch wird 'Die Erschaffung des Menschen' heißen, das hatte ich immer als Kompass. Die Ur-Inspiration für die Form meiner Geschichte ist ein altbulgarischer Apokryph, in dem die drei berühmtesten byzantinischen Philosophen einen Dialog über die Erschaffung der Welt führen und etwa die Frage erörtern, aus wie vielen Teilen der erste Mensch erschaffen wurde."

"Es geht mir um das, was uns Menschen ausmacht"

Im Mittelpunkt steht nichts weniger als die Conditio humana. "Beim Schreiben geht es mir um das, was uns Menschen ausmacht, um alles, was sich zwischen Himmel und Hölle abspielt, um jede Seele. Eine wichtige Frage in dem Buch ist: Woher kommt diese Kraft, die uns zwingt, ethisch-moralisch zu handeln, obwohl in einer Diktatur die ganze Gesellschaft eine amoralische ist und die Gesetzgebung das Böse schützt?"

Die "Zeit der Mutigen" ist eine dunkle Zeit, in der es Mutige braucht, um den Glauben an das Gute im Menschen nicht zu verlieren. Das Buch ist ein zeithistorisches Aufklärungswerk über das kommunistisch-stalinistische Bulgarien und eine persönliche Abrechnung. Denn Dimitré Dinev hat persönlich erlebt, was es heißt, unterdrückt, manipuliert und verfolgt zu werden, schon als 15-Jähriger: "Wir waren die ersten Punks und total auffallend. In unserem Fall hatte das nicht einmal einen ideologischen Hintergrund, sondern das Bedürfnis nach Anderssein. Wir waren damals amtsbekannt und wurden immer wieder von der Miliz aufgelesen von der Straße. Man hat uns auch vor allen Leuten die Haare geschnitten. In der Uniform hatten sie extra Scheren dafür. Wir haben damals gleich gespürt, dass man mit aller Härte vorgehen würde ..."

"Unsere Beziehung zur Wahrheit ist geschädigt"

Dinev, Jahrgang 1968, hat in seinem Roman versucht, die im Bulgarien damals herrschende bleierne Atmosphäre nachzuzeichnen. "Wir hatten eine faschistische Gesellschaft, die sich kommunistisch genannt hat. Das ganze Regime hat sich auf Fake News gestützt. Wir sind in einer von Lügen verpesteten Gesellschaft aufgewachsen. Unsere Beziehung zur Wahrheit ist geschädigt. Die Prämisse war: Es ist nicht wahr, was du siehst und begreifst und wahrnimmst, sondern das, was wir dir sagen. Du täuschst dich immer! Du täuschst dich, dass du nicht in der freiesten Gesellschaft lebst! Du bist frei, weil wir dir sagen, dass du frei bist!"

Als er dachte, das System zu kennen und mit ihm umgehen zu können, kam die Wende, der Fall des Eisernen Vorhangs und im Juni 1990 die erste Wahl. Sie ist im Buch ein entscheidendes Ereignis und war es auch im Leben des Autors. Das wird im Gespräch rasch klar. Die Emotion ist auch 35 Jahre danach greifbar. "Sie haben bei uns das gemacht, was sie heute global machen: Sie haben das Bewusstsein und die Wahlen gleichermaßen manipuliert. Das war extrem frustrierend für jene, die alles versucht haben, um die Bürger zu aktivieren. Ich war ja einer von denen, die in die Fabriken gegangen sind, um die Menschen dazu zu bringen, wählen zu gehen. Ich war von einer Euphorie getragen, von einer Wolke der Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit, die ich noch nie kannte. Bei den ersten Demonstrationen wusste man noch nicht, wie es ausgehen wird. Es waren Schicksalswahlen. Und dann war Bulgarien das einzige Land, in dem die Ex-Kommunisten gewinnen. Das war ein Schock. Da hat es mir den ganzen Boden unter den Füßen weggezogen."

"Ich habe am meisten riskiert mit dem Buch"

Die Folge sei gewesen, dass der Westen mit den angelaufenen Unterstützungen sofort zurückhaltender wurde, und dass die Mächtigen des Regimes Zeit gewannen, Werte ins Ausland zu transferieren und ihre Untaten zu verwischen. "Dennoch ist ihnen das nicht vollständig gelungen. Man findet immer noch Spuren, das muss man sich einmal vorstellen! Obwohl sie so viele Jahre dafür Zeit hatten, Dinge verschwinden zu lassen."

Dinev beschreibt geheime Lager und ihre furchtbaren Zustände genau. Erfunden sind daran allenfalls Details. Wenn das Buch in Bulgarien erscheint (über eine Übersetzung gibt es Gespräche), könnte es dort Skandal machen. "Ich glaube schon, dass da manches drinnen ist, was für Bulgarinnen und Bulgaren neu ist. Ich habe am meisten riskiert mit dem Buch - und deswegen habe ich mich auch am besten vorbereitet. Wenn man die Staatssicherheit angreift, die sich immer der Lüge bedient, darf man nur das verwenden, wo es wirklich hundertprozentige Beweise gibt. Denn die sind Meister darin, dich fertigzumachen." Der investigative Journalist Hristo Hristov habe ihm beim Faktencheck sehr geholfen. "Er hat sein Leben der Aufklärung der Verbrechen der Kommunisten gewidmet und betreibt eine Website, auf der aufzeigt, wer von den heute wichtigen Menschen eine Stasi-Vergangenheit hat. Sein Leben ist nicht leicht - das reicht von Morddrohungen bis zum Anzünden seiner Wohnung."

"Man sagt ja auch Erzählfluss und nicht Erzählberg"

Doch Bulgarien ist nur einer der Schauplätze dieses Mammut-Romans, auch Österreich spielt eine gewichtige Rolle: "Ich hab versucht, es richtig halb-halb zu halten und meine beiden Identitätsströme zu verbinden." Die Donau ist jener Strom, der die beiden Länder miteinander verbindet, und Wasser ist auch das verbindende Element in Dinevs Roman. "Für mich verkörpert Wasser auch das Erzählen selbst. Deswegen sagt man ja auch Erzählfluss und nicht Erzählberg. Wasser trägt auch den Aspekt der Zeit in sich. Man kann etwa denken: In zwei Tagen ist dieser Tropfen im Meer."

Auf 1.152 Seiten hat Dimitré Dinev aus dem Vollen geschöpft. Viel Raum gibt er den starken Frauen ("ein Teil meiner Lebenserfahrung"), der "magischen Welt, in der ich aufgewachsen bin" ("meine Großmutter war eine Wunderheilerin"), und den Roma. "Ich gehöre wahrscheinlich zur letzten Generation, die gemeinsam mit Roma gespielt hat und unmittelbaren Kontakt hatte. Es ist nicht so, dass alles immer harmonisch war. Weil sie aber bis heute das Fremde im Eigenen verkörpern, eignen sie sich als Sündenböcke und für alle möglichen politischen Manipulationen."

"Gewalt ist das Gegenteil von Sprache"

Immer wieder wird deutlich, dass zwei Anliegen die Haupttriebfeder für diesen großen Roman waren: der Versuch, die richtige Sprache zu finden, und bei allem Schrecklichen das Positive nicht zu negieren. Sprachlich sind vor allem die Darstellungen von Gewalt und Sexualität außergewöhnlich. "Vielleicht konnten wir Gewalt bisher nicht adäquat vermitteln. Gewalt ist ja das Gegenteil von Sprache, ihre Negation, ihr Verschwinden. Für einen Autor ist das eine große Herausforderung. Und bei der Sexualität wollte ich tatsächlich die Urkraft drinnen haben, das Mythologische. Dieser Akt klopft an der Unsterblichkeit - auch buchstäblich, denn er bewahrt uns vor dem Aussterben. Deswegen ist er auch sprachlich so wichtig."

Dinev mutet den Lesern viel zu. Es gibt viele grausame Szenen, aber auch traumhafte und träumerische Momente von Innigkeit und Nähe. "Ich wollte noch alles Schöne, Gute, Wahre aus meinem Leben retten, bevor es verschwindet, die Erinnerung daran, dass es auch innerhalb eines so totalitaristischen und terroristischen Systems Minuten und Stunden gibt, die die ganze Welt ausmachen. Die stärkste Bindung besteht zu einem anderen Menschen. Aufgrund dieser Bindung überlebt auch in diesen Zeiten das Gute, weil wir begreifen, dass wir ohne den anderen nichts haben. Deshalb greifen alle autoritäre Regime genau diese Bindung an. Wenn sie das zerstören können, das Vertrauen zum Anderen, dann gewinnen sie."

"Ein großer Roman enthält alle literarischen Gattungen"

Dimitré Dinev ist erschöpft, aber glücklich. "Hätte ich das Buch nicht geschrieben, wäre ich unglücklich. Aber wenn ich keinen einzigen weiteren Roman mehr schreibe, bin ich trotzdem nicht unglücklich. Ich muss keinen mehr schreiben." Dass er nun "so erfüllt" ist, liegt an dem Gefühl, die selbst gestellte Aufgabe ehrenvoll bewältigt zu haben: "In einem gelungenen Roman muss alles vorkommen, was Literatur vermag. Ein großer Roman enthält alle literarischen Gattungen. Wenn nur dieses eine Buch überlebt, sollte man alles rekonstruieren können. Er muss Dialoge haben wie ein tolles Theaterstück, eine Dramaturgie wie ein tolles Drehbuch, eine Bildhaftigkeit und eine Rhythmik wie Lyrik und philosophische Stellen wie ein Essay."

Dinevs "Zeit der Mutigen" liegt in der Vergangenheit. In welcher Zeit leben wir seiner Ansicht nach heute? "Die Antwort muss jedes Individuum für sich geben, und das ist unser Verdammnis. Es ist unsere Pflicht zu wissen, in welcher Zeit wir leben, und uns nicht treiben zu lassen. Gleichgültigkeit ist genauso schlimm wie das schlimmste Verbrechen. Die wenigen Mutigen jedoch erhalten uns als Menschen. Die Welt ist immer in der Schwebe. Ein kleiner Anstoß reicht aus, um sie in die eine oder andere Richtung kippen zu lassen."

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - Dimitré Dinev: "Zeit der Mutigen", Kein & Aber, 1152 Seiten, 37.10 Euro, ISBN: 978-3-0369-5079-2; Präsentation und Konzert mit den Wladigeroff Brothers am 14.9., 20.30 Uhr, im Porgy & Bess, Wien 1, Riemergasse 11)

KULTUR-NEWSLETTER

Jetzt anmelden und wöchentlich die wichtigsten Kulturmeldungen kompakt per E-Mail erhalten.

*) Eine Abbestellung ist jederzeit möglich, weitere Informationen dazu finden Sie hier.