Dass die Stücke nicht miteinander verwoben waren - weder erzählerisch mit etwaigen weitergereichten roten Fäden noch mit übergreifenden Bühnenbild-Elementen - war wohl intendiert. Denn so konnten sich die bei "Verlockung" gestellten Fragen nach Vereinzelung, Zugehörigkeit im Kollektiv und die der Gemeinschaft abgerungene Neufindung der eigenen Rolle im großen Ganzen noch breiter und zugleich tiefer gehender verhandelt werden.
Fragefragmente und tänzerische Ambitionen
Im Grunde genommen wartete "Verlockung" mit den Stücken "No-Pleasure Pain" von Frassinelli und "Lotus-Eaters" von Lee dabei in nur knapp neunzig Minuten mit zwei tänzerisch ambitionierten aufgestellten Fragefragmenten auf, die mehr andeuteten, denn ausformulierten. Die Stoffe dafür orientierten sich an den großen Erzählungen der Menschheit: Der Schöpfungsgeschichte bei "No-Pleasure Pain" und einer Episode aus der "Odyssee" bei "Lotus-Eaters".
Beide Kurzwerke arbeiteten dabei - rein auf der Ebene der Bühnenästhetik betrachtet - durchaus ähnlich. Es stand nämlich jeweils ein bestimmendes und die Handlung vorantreibendes Bühnenobjekt im Mittelpunkt: Bei Frassinelli war es eine äußerst wandelbare schwarze Kiste, bei Lee eine Konstruktion aus Kabeln und Schläuchen. Sie waren jeweils stark symbolisch aufgeladen: In "No-Pleasure Pain" diente die Kiste gleichermaßen als Anfangspunkt, aus dem sich alles herausschälte sowie als Bett für erotische Betätigungen als auch Paradiesversprechen. Bei "Lotus-Eaters" hingegen stand das beeindruckende Konstrukt für Abhängigkeiten und Verquickungen in der Gesellschaft.
Poetische Duo-Passagen und gelungene Musik
Solcherart eingerahmt und grundiert, befanden sich dennoch die Tänzerinnen und Tänzer deutlich im Vordergrund. Im Stück von Frassinelli wechselten sich gemeinschaftliche, animalisch und archaisch anmutende Gruppenchoreografien mit poetisch-lyrischen Duo-Passagen ab. Im Zentrum befand sich hier die Frage nach der puren Liebe, die sich jenseits der gesellschaftlichen Erwartungen und abseits von althergebrachten Geschlechterrollen entfalten kann. Äußerst gelungen dazu war auch die Musikebene mit Kompositionen von Mutafrukt & ITSU, Ola Gjeilo oder Hildur Guðnadóttir. Das Stück endete schließlich offen, lediglich mit Andeutung von Möglichkeiten eines Neuanfangs.
In "Lotus-Eaters" rückte wiederum die Odyssee-Episode ins Zentrum, in der ein Volk thematisiert wird, das offenkundig der berauschenden Wirkung von Lotusfrüchten verfallen ist. Der ersehnte und schließlich ritualhaft wiederkehrende Rausch wurde hier zur Frage nach dem Innersten, das Kollektive zusammenhält.
Eigens komponierte Musik
Auch hier schälte sich eine Figur aus der amorphen Masse: Die Lotus-Figur, die der berauschten Gruppe in einer Art Halluzination erschien und eine - womöglich falsche - Freiheit und individuelle Selbstfindung versprach. Dazu wurde eigens komponierte, äußerst stimmungsvolle Musik von Nicolas Sávva kredenzt, die sich zwischen Neoklassik und leisen Elektronik-Verwischungen einpendelte.
Das Premierenpublikum in den so gut wie ausverkauften Kammerspielen im "Haus der Musik" reagierte schließlich kollektiv mit heftigem Applaus und lauten Beifallsbekundungen. Einzelne Tänzerinnen und Tänzer sowie die Choreografen durften sich dabei Applaus abholen, der noch einen Tick lauter ausfiel als bei den weiteren Beteiligten.
(Von Markus Stegmayr/APA)
(S E R V I C E: "Verlockung" von Francesca Frassinelli (No-Pleasure Pain) und Douglas Lee (Lotus-Eaters). Bühne und Kostüme: Felicitas Stecher, Francesca Frassinelli und Douglas Lee, Dramaturgie: Stefan Späti. Tänzerinnen und Tänzer des Tiroler Landestheaters. Weitere Vorstellungen am 12., 16., 19., 22., 24., 30. Oktober, 2., und 8. November, 6. und 31. Dezember 2025, 10. Jänner 2026. https://www.landestheater.at/)