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Mark Cavendish - oder: Die Kunst der Schnelligkeit

Im Gewusel des Wimmelbildes des Zielsprints zieht Mark Cavendish in höchster Raserei seine Linien. Nun hat er sein Meisterwerk vollendet.

Der Schnellste im Gewusel: Mark Cavendish ist nun Rekordetappensieger der Tour de France.
Der Schnellste im Gewusel: Mark Cavendish ist nun Rekordetappensieger der Tour de France.

Wenn bei der Tour de France eine Etappe im Sprint entschieden wird, ist es ganz wunderbar, dass Hubschrauber über den Straßen im Einsatz sind. Von dort oben wird gefilmt. Und was man aus dieser Vogelperspektive auf den Bildschirm gesendet bekommt, sieht aus wie ein Bild von Pieter Bruegel oder Keith Haring oder auch wie ein Wimmelbild aus einem Kinderbuch. Bloß ist das Gewusel auf diesem bunten Gemälde in Bewegung. Und zwar in rasend schneller Bewegung.

Mittendrin ist einer zu sehen mit einem türkis-farbenen Trikot und weiß-schwarzem Helm, der den schnellsten Weg durch das Gewusel findet. Der jüngste, nun historische Zieleinlauf der Tour de France passierte nicht Paris, wo die Tour üblicherweise endet. Es war der kleine Ort Saint Vulbas, wo bloß knapp 1300 Menschen leben im Département Ain in der Region Auvergne-Rhône-Alpes. Es war also auch nicht die Champs-Élysées, wo der Brite Mark Cavendish, der Mann in Türkis, schon vier Mal - 2009, 2010, 2011 und 2012 - die letzte Etappe der jeweiligen Tour gewinnen konnte. Es ist stattdessen die Avenue des Bergeries, die nun in den Geschichtsbüchern des Radsportes steht.

In Saint Valbus liegt fortan die Ziellinie eines Meisterwerks

Jedes dieser Etappenendphasen-Gemälde hat eine Ziellinie, an der sich auflöst, was zuvor so undurchsichtig, so unberechenbar, so aufregend ist. Und in Saint Valbus liegt fortan die Ziellinie, auf der Cavendish am Mittwoch einen Rekord aufstellte, von dem niemand annimmt, dass er je gebrochen werden wird: 35 Etappen-Siege bei der Tour de France, ein Meisterwerk. Damit ist Eddie Merckx, bisher der Etappensieg-Rekordhalter und eine übergroße Figur im Gemälde des Radsportes, Geschichte.

Die Gegenwart heißt Mark Cavendish.

Das kann durchaus verwundern, denn der Mann ist mit seinen 39 Jahren und 43 Tagen kein junger Durchstarter, keiner der aus dem Nichts nach vorne schießt, sondern einer, der schon ein paar Mal am Ende schien. Er ist, daran ändert auch sein ewige spitzbübisches Gesicht nichts, einer der Weisen, einer von denen, die wissen, wie es geht - wie man in der Raserei am Ende einer Etappe die Ruhe bewahrt, die Übersicht behält im Gedränge auf der Suche nach der einzigen, richtigen Linie durch das Wimmelbild.

Nach dem Sieg folgten Jahre des Schmerzes, der Hoffnung, des Unglücks

Cavendish, wegen einer Herkunft von der Isle of Man, auch "Manx Missile" genannt, spürt diese Linie so, wie ein Maler spürt, wo der Strich zu sitzen hat um einem Bild Ausdruck zu geben. In den vergangenen Jahren kam Cavendish aber oft gar nicht so weit, dieser Linie auch folgen zu können. Drei Jahre liegt der Sieg bei einer Tour-Etappe nach Carcassonne zurück, mit dem er mit den 34 Siegen von Eddie Merckx gleichgezogen war. Er fuhr damals im Team Deceuninck-Quickstep. Der legendäre Teamchef Patrick Lefevre, nun sichtlich gerührt im Angesicht von Cavendishs Werk, hatte ihm - ohne Gage, wie man auch in einer empfehlenswerten Netflix-Doku über Cavendish erfahren kann - einen Platz gegeben. Nach dem Sieg aber folgten Jahre des Schmerzes, der vergeblichen Hoffnung, des (manchmal selbst, manchmal unverschuldeten) Unglücks - und eben auch der Unkenrufe, dass seine Zeit vorbei sei.

Nach erfolgreichen Jahren als Bahnfahrer, war Cavendish ab 2005 auch auf der Straße unterwegs, keiner für Gesamtwertungen, aber einer für die allerletzten Meter am Ende einzelner Tage. Dieses Mal konnte man genau sehen, wie Cavendish seine Kunst betreibt. Er erkennt zwei Mal Lücken, die gar nicht dazu sein scheinen, durch die er aber nach vorne schlüpfen kann. Unaufhaltsam. Mit einem guten Auge. Geduckt. Mit extremer Wendigkeit. Dazu kommt eine "schiere Schnelligkeit", bei der auch jene, die noch im Windschatten hängen, keine Chance haben, sagt der österreichische Ex-Profi Bernhard Eisel als Experte bei Eurosport, während er "noch komplett nervös" ist - aus Begeisterung.

Cavebdish: "Bernie Eisel ist auf der Straße mein Hirn"

Eisel und Cavendish fuhren viele Jahre in den Teams HTC-Columbia, Sky und Data Dimension gemeinsam. "Bernie ist auf der Straße mein Hirn", sagte Cavendish, dessen Trauzeuge Eisel ist, einst in einem SN-Interview. Wegen der historischen Dimension, aber auch wegen ihrer engen persönlichen Beziehung war der sonst ebenso ironisch-witzige, wie sachlich-nüchtern beobachtende Eisel nach der Rekordfahrt sichtlich gerührt, Das gilt auch für den Rest des Peletons. "Und manche werden wohl auch froh sein, dass das jetzt endlich geschafft ist", sagte Eisel. "Endlich hört er auf", sagt Eisel schmunzelnd. Die Diskussion, wer der beste Sprinter des Radsports sei, könne als beendet werden. Allerdings könnten durchaus noch Siege bei der laufenden Tour dazukommen.

Gegenwart und Gegenwärtigkeit gehören zu den Eigenschaften, die einen Sprinter zu einem Gewinner machen. Dazu - neben fahrerischen Qualitäten - noch Mut und ein bedingungloses Vertrauen, dass bei enormen Geschwindigkeiten bis zu 80 km/h alles gut gehen wird. Cavendish vereint das alles seit vielen Jahren. Und so ist er der Schnellste. Einmal noch. Und vielleicht auch nicht das letzte Mal bei der heurigen Tour, obwohl die mit Problemen begonnen hatte. Auf der erste Etappe musste er schon am ersten Berg, dem Col de Valico Tre Faggi, das Hauptfeld ziehen lassen. Er schien zu stehen, war wegen der Hitze dehydriert, musste sich übergeben, schleppt sich ins Ziel.

Er schien schon aus der Mode gekommen zu sein

Das war aber nichts gegen die lange Durststrecke, die er bisdahin hinter sich bringen musste. Im vergangenen Jahr, als er den Rekord im Augen hatte, brach er sich das Schlüsselbein. Er hatte zuvor angekündigt, dass es seine letztes Saison sein würde. Aber das Astana-Team, bei dem er nach einigen Umwegen 2023 angeheuert hatte, gab ihm noch eine Chance, baute ein Team um ihn, das ihn in aussichtsreiche Positionen bringen kann. Er nahm sie wahr. Dabei schien er schon aus der Mode gekommen zu sein. Seine raffinierte Art Sprints zu fahren, schien abgelöst zu werden, von neuen Kraftlackeln, angefangen etwa mit Marcel Kittel Mitte der 2010er-Jahre bis zu neuen Topsprintern wie Jasper Philipsen oder Mads Pedersen.

Cavendish mag im Zielsprint keine Gnade kennen, immer Sieger sein wollen, ein Angeber und Protzer ist er trotzdem nicht.

Eindrücklich klar wird das in der intimen, feinfühligen Netflix-Dokumentation, die vor einem Jahr erschienen war. Sie zeichnet den Weg eines Talents nach, dessen Ehrgeiz enorm, manchmal auch übertrieben ist und das schließlich nach großen Triumphen krank und depressiv wird. Mühsam kommt er wieder in Schwung. Da hat es auch den Anschein, dass seine Ehefrau Peta Todd mehr daran glaubte, dass er noch einmal Schnellster sein kann, als er selbst. Doch dem widerspricht sie in einer ersten Reaktion nach dem 35. Sieg: "Hätte er nicht daran geglaubt, hätte er auch im Bett bleiben können."

Die Familie bildet ein neues Wimmelbild

Er kehrte also zurück in Schnelligkeit und Mut, die ihm beide zwischendurch abhanden gekommen waren. Dann steht da hinter der Ziellinie in Saint Vulbas seine Familie, seine Frau Petra und seine vier Kinder. Sie bilden einer neues Wimmelbild, in dem ausgelassene Freude und auch Erleichterung und Rührung zu erkennen sind. Das passt zur Entwicklung dieses schnellen, aber auch schüchtern wirkenden und manchal ob der eigenen Stärke demütigen und dankbaren Mannes. Er galt als launisch, manchmal auch rüpelhaft. Wenn man ihn trifft, scheint das aber ganz anders. Da begegnet man einem, aus dessen spitzbübischen Gesicht der Schalk spricht. Einer, der sich wahlweise mit schroffen Worten oder mit Witzchen davonstahl, wenn ihm das Getue um seine Person zu mächtig wurde. Einer, der einfach nur schnell Radfahren will, so schnell, dass er als Erster aus dem Gemälde des Gewusels in die Sicherheit nach den Ziellinie rasen will.

Sein Rekord gehört nun einem kleinen Städtchen

Und irgendwie passt es zu der familiären, ganz und gar bodenständigen Art wie Cavendish den Tränen nahe sein ganzes Team lobt. Es passt zu seiner Zurückhaltung, wenn es um seine Leistungen geht, dass sein Rekord nun auch einem kleinen Städtchen gehört, das eher bekannt ist wegen das Boulodrome Jeannot-Védrine, wo im Mai die Weltmeisterschaften im Boule stattgefunden haben, als durch Radsport. Bis jetzt halt. Jetzt war die Tour de France da. Das große Wimmelbildbuch des größten Radereignisses bekommt nun ein neues Kapitel, das nur dem Sprintkünstler Mark Cavendish gehört.

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