Solo über die zerbrochene Weltordnung
Angelehnt an das diesjährige Festivalthema "Never Again Peace" transformierten Pelmuş und Gies das für 16 Tänzerinnen und Tänzer konzipierte, 1932 uraufgeführte Antikriegsballett in ein stark reduziertes Solo, das Gies auf leerer Bühne unter einem von der Decke schwebenden Neonlicht-Rechteck zum Besten gab. Zu elektronischen Beats von Fiedel verkörperte die aus Frankreich stammende, verschiedene Pronomen verwendende Person das zentrale Motiv des Totentanzes und schälte sich im Laufe der 25-minütigen Performance aus einem anfangs getragenen Anzug, bis er/sie nur mehr in langer Unterhose und nacktem Oberkörper die weiße Friedensflagge schwenkte. Im Programmheft erklärtes Ziel war es, "die zerbrochene Weltordnung von heute" zu thematisieren, "in der Friedensverhandlungen oft eher dazu dienen, Kontrolle zu simulieren, als Lösungen zu finden".
Nach einer Umbaupause enterte schließlich Dimchev - in Wien Stammgast bei ImPulsTanz und zuletzt auch bei den Wiener Festwochen mit "The Strauss Technique" zu Gast - mit seiner "sehr heterosexuellen Band" die Bühne. Im hellgrünen Sakko und blonder Wuschelperücke auf dem kahl geschorenen Kopf schickte er sich an, dem Grazer Publikum bei seinem Debüt in der steirischen Landeshauptstadt das Zustandekommen des Auftritts zu erklären. Intendantin Ekaterina Degot habe ihn für die Eröffnungsproduktion angefragt, aufgrund eines großen Auftritts in Bulgarien Anfang Oktober habe er jedoch keine Zeit gehabt, eine neue Performance zu entwickeln. Man einigte sich auf einen Band-Auftritt unter dem Titel "Hot Sotz", "aber er muss politisch sein", habe ihn Degot gebeten. Wer Dimchev kennt, weiß jedoch ohnehin, dass bei dem 49-Jährigen nichts nicht politisch ist.
Live-Versteigerung und viele knifflige Entscheidungen
"Also habe ich mir überlegt, dass ich vor dem Auftritt zwei Besucher fotografiere und davon Zeichnungen anfertige, die ich hier und jetzt versteigern werde, um meinen Auftritt in Bulgarien zu finanzieren", so der Künstler, der das Publikum anschließend darüber abstimmen ließ, ob die beiden Abgebildeten männlich oder weiblich, hetero- oder homosexuell oder muslimisch oder christlich seien. Ein Entweder-oder-Muster, das man aus früheren Performances kennt und das sich im weiteren Verlauf durch die etwa einstündige Performance ziehen sollte. Nach erfolgreicher Show-Versteigerung der beiden großformatigen Papierarbeiten ging es dann ans Eingemachte und Dimchev und seine fünfköpfige Band gaben zwischen Pop, Rock und Jazz angesiedelte Songs zum Besten, bei denen das Publikum nicht selten zur aktiven Teilnahme motiviert wurde.
Nach einer kurzen Saalbefragung, wann die Premierenbesucher zuletzt masturbiert hätten, intonierte Dimchev, der eine erstaunliche stimmliche Bandbreite aufweist, seinen Song "Masturbate", das Publikum sang die auf einer Leinwand eingeblendeten Textzeilen zu den von Dimchev auf dem Keyboard gespielten Klängen des "Donauwalzers" zunächst zögerlich, dann lauthals mit: "If I'm angry or sad / i masturbate...". Es sollte nicht das einzige sexuell konnotierte Stück des Abends bleiben, würdigte der queere Künstler doch auch ausführlich die Klitoris, die er mit seinem gleichnamigen Song in den Himmel schickte. Kein Wunder, dass die Performance, die am Freitagabend noch einmal auf dem Programm steht, ab 18 Jahren empfohlen ist.
Trump-Entschuldigung und WhatsApp-Song
Äußerst berührend geriet Dimchevs Song "The Apology of Trump", in dem er dem US-Präsidenten Worte der Entschuldigung in den Mund legt ("I want to apologize / because I'm gonna fuck you up / you cannot stop me / at least try to forgive me"), an anderer Stelle spazierte er ins Publikum, forderte die Menschen zu kleinen Tänzchen auf und bedankte sich mit Umarmungen. Nach immer wieder durchgeführten Publikumsabstimmungen zu Fragen wie "Sex with Putin or Sex with Dalai Lama?", "In Hell with Jesus or In Heaven with Trump?" oder "Dirty cock or Dirty dishes?" kam es schließlich zum ultimativen partizipatorischen Höhepunkt, als das Publikum via eingeblendetem QR-Code einer "Hot Sotz"-WhatsApp-Gruppe beitreten konnte, in der Satzanfänge ("Give me...", "They would never..." oder "My body...") weitergesponnen werden konnten, während Dimchev die Antworten live in einen Song verwandelte. Nach dem lang anhaltenden Applaus blieb die WhatsApp-Gruppe noch bis weit in die Nacht aktiv, bis ein Mitglied um 4.00 Uhr schrieb: "Answer to all 3 -- shower". Wahre Worte nach einem gelungenen Festivalauftakt.
(Von Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - steirischer herbst vom 18. September bis 12. Oktober. Doppelperformance "Tribute to Kurt Jooss's 'Green Table'" von Manuel Pelmuş und Frédéric Gies / "Hot Sotz" von Ivo Dimchev, weiterer Termin: 19. September, 20.30 Uhr in der Helmut List Halle. Ab 18 Jahren. www.steirischerherbst.at)