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Regisseur Edgar Reitz: "Man wird nicht klüger vom Altwerden"

Er ist der große alte Mann des deutschen Films, der sich mit seinem vielteiligen Opus magnum "Heimat" in die Filmgeschichte eingeschrieben hat: Edgar Reitz. Nun legt der Filmemacher, der am 1. November seinen 93. Geburtstag feiert, gleichsam die Antithese vor. "Leibniz - Chronik eines verschollenen Bildes", der am Donnerstag (23. Oktober) erneut bei der Viennale zu sehen ist, ist ein denkbar kleines Sujet, das jedoch die ganz großen Fragen der Kunst stellt.

Edgar Reitz bringt 'seinen' Leibniz auf die Leinwand (hier 2024)
Edgar Reitz bringt 'seinen' Leibniz auf die Leinwand (hier 2024)

Edgar Selge spielt darin den titelgebenden Philosophen, der von einer Malerin porträtiert werden soll. Zwischen beiden Geistern entspinnt sich ein Diskurs über Kunst, das Bild als solches und den Wert der Zeit. Aus Anlass der Viennale-Premiere sprach Edgar Reitz mit der APA über Leibniz als seine persönliche Rettung, den Mythos der Altersweisheit, emotionale Wahrheit als das Gebot der Stunde und den Glaubwürdigkeitsverlust der Bilder.

APA: War Gottfried Wilhelm Leibniz als Philosoph jemand, der Sie auch schon vor dem Projekt "Chronik eines verschollenen Bildes" begleitet hat?

Edgar Reitz: Bereits mein ganzes Leben. Das erste Mal bei der Abiturprüfung. Als ich zur Schule ging, war Religion noch ein Hauptfach - da ich aber nicht gläubig war, hat mich Leibniz gerettet. Ich habe seine "Theodizee" gelesen und seinen Versuch eines wissenschaftlichen Gottesbeweises. Damit habe ich mich sozusagen auf die rationale Seite herübergerettet und eine sehr gute Note erworben. Das hat dazu geführt, dass ich immer wieder aufmerksam wurde, wenn der Name Leibniz fiel.

APA: Zugleich fällt der Name Leibniz heutzutage nicht mehr so oft, obgleich er doch eigentlich ein sehr heutiger Denker ist. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Reitz: Er ist ein sehr berühmter Name und keiner kennt ihn. Es gibt in Deutschland alleine über 100 wissenschaftliche Institute, die nach ihm benannt sind, aber selbst deren Mitarbeiter wissen nicht, wer er war. Dabei ist er tatsächlich ein sehr heutiger Denker, wenn man es genau betrachtet. Das Problem ist, dass all seine Schriften nicht zu seinen Lebzeiten publiziert worden sind. Was er hinterlassen hat, ist ein unglaublicher Berg von Notizen, Zetteln und Briefen, den sich die Historiker seit 300 Jahren bemühen zu erfassen. Man stößt dabei immer noch auf neue Gedanken, die uns überraschen. Und das macht Leibniz für mich zu einer Figur der Poesie. Deshalb ist mein Film nicht der Versuch eines Wissenschafters, sondern ich habe Leibniz neu erfunden.

Ein Film über Film

APA: Was war Ihr Impetus für "Chronik eines verschollenen Bildes"? Ging es Ihnen darum, ein philosophisches Gedankenspiel auf Film zu bannen? Oder eher darum, die Grundfragen des Mediums Film, des Bildes zu thematisieren und Leibniz dafür als Vehikel zu benutzen?

Reitz: Das Letztere. Ich wollte einen Film über Film machen. Denn die Frage, die uns Filmleute heute umtreibt, ist jene nach der Wahrheit im Bild. Wir haben noch in unserer Jugend gesagt, dass eine Fotografie eine Beweiskraft hat. Diese Zeit ist vorbei. Und wenn die Bilder an sich keine dokumentarische Glaubwürdigkeit mehr haben können, dann muss eine andere Wahrheit verstanden werden. Das ist die künstlerische Wahrheit. Wie gelingt es der Filmkunst, in die Herzen der Menschen einzudringen, zutiefst zu verstehen, was ein lebendiges Wesen ist? Damit erreichen wir auch eine gewisse Wahrheit, sozusagen eine Spiegelwahrheit. Die Kunst spiegelt die Wirklichkeit in sich, ist aber nicht die Wirklichkeit.

APA: Das wäre ja eine gewisse Abkehr von der Ratio, die Sie Leibniz beim Abitur zugemessen hatten. Bedeutet das, wir befinden uns in einem Zeitalter der emotionalen Wahrheit?

Reitz: Ja, genau.

APA: Verstehen Sie selbst "Leibniz" als Alterswerk?

Reitz: Es ist im Grunde ein Rückblick auf meine vielen Jahre des Filmemachens. Ich bin dabei immer wieder unter die verschiedensten Einflüsse geraten, eine Schwärmerei hat die andere abgelöst. Mein erster Antrieb war der italienische Neorealismus und sein Verständnis des alltäglichen Lebens, um dem eine poetische Kraft abzugewinnen. Meine zweite große Liebe war Luis Buñuel und sein Surrealismus, bei dem der Übergang in die Fantasie Thema wurde. Und dann kamen die Größen der Nouvelle Vague, die der literarischen Sicht den Vorrang gaben.

Zeit als eigentliches Thema des Films

APA: Haben Sie beim Gang durch all diese Filmschulen für sich eine endgültige Wahrheit gefunden?

Reitz: Ich habe für mich eine Entdeckung gemacht: Das eigentliche zentrale Thema der Filmkunst ist die Zeit - oder besser die Möglichkeit, Zeit darzustellen. Die Musik hat damit immer schon zu tun gehabt, weil auch sie sich in der Zeit entwickelt. Aber sie hat nicht die Zeit selbst zum Thema.

APA: Und sie kann die Zeit als ephemere Kunst nicht halten ...

Reitz: Genau diese einzigartige Möglichkeit, Zeit aufzubewahren, ist das Magische am Film, was mich jetzt auch bei "Leibniz" umgetrieben hat. Zugleich gibt es darin all die beschriebenen Elemente - das Literarische, das Surreale und die Schilderung des Alltags dieser Menschen, in dem Poesie zu entdecken ist. Deshalb war Edgar Selge so wichtig für das Projekt, weil er komplizierte Sprache in natürliche Gedanken verwandeln kann.

Das Alter macht nicht weise

APA: Für Sie stellt "Leibniz" also gleichsam ein Kondensat Ihres bisherigen Œuvres in der denkmöglichst kleinen Versuchsanordnung dar?

Reitz: Wenn Sie über 90 sind und einen Film drehen, fragt man sich immer: Ist das jetzt mein letzter Film? Damit muss man sich konfrontieren. Das sollte man sich aber auch als junger Filmemacher grundsätzlich fragen. Aber ich kann nur sagen: Das Alter allein macht einen nicht weise. Man wird nicht klüger vom Altwerden.

APA: Wird denn das Regieführen im Alter leichter aufgrund der Erfahrung? Oder schwerer aufgrund der Erfahrung?

Reitz: Ich habe es so erlebt, dass man mit jedem Film vor Neuland steht. Mit jedem Film hat man Probleme zu lösen, vor denen man noch nie stand. Bei "Leibniz" war das interessanterweise der Umstand, dass ich das erste Mal komplett im Studio gedreht habe. Bisher habe ich immer an Originalschauplätzen die Berührung mit der Realität gesucht und mich von Zufällen inspirieren lassen. Aber im Studio gibt es keine Zufälle.

APA: Haben Sie hier für sich eine neue Welt auch für die Zukunft entdeckt?

Reitz: Also nur im Studio möchte ich nicht mehr drehen. Ich habe mir in diesem Fall die Arbeit interessant gemacht, indem ich im Studio viele Requisiten und Raumverhältnisse so arrangiert habe, dass man nicht wusste, was sie bedeuten. Ich habe aber auch bewusst kleine Zwischenfälle herbeigeführt. Damit die Arbeit ein Abenteuer bleibt.

(Das Gespräch führte Martin Fichter-Wöß/APA)

(S E R V I C E - "Leibniz" ist am 23. Oktober um 18.45 Uhr in der Urania zu sehen. www.viennale.at/de/film/leibniz-chronik-eines-verschollenen-bildes)

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