Im Fiaker treffen Milo Rau und sei Team vor dem Hotel Impe-rial ein, ihre Gesichter unter Sturmhauben verborgen. Die nehmen sie aber schnell wieder ab, nachdem die Pressefotos gemacht worden sind. Alles nur Show, und doch ein Hauch von Revolution.
Der Schweizer Theatermacher weiß, wie man (sich) inszeniert. Es gilt, das erste Programm der Wiener Festwochen unter der neuen Leitung vorzustellen. Zunächst ruft Milo Rau die "Freie Republik Wien" aus. "Wie kann eine Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft aussehen", fragt er in die Runde und verweist auf die "Wiener Prozesse" im Festwochen-Programm. Darin sollen reale Richter und Anwälte Themenkomplexe wie die Rolle der Medien während der Corona-Pandemie oder die Frage, ob die FPÖ noch innerhalb des Verfassungsbogens steht, behandeln. Auch der Intendant selbst will sich einem jener Schauprozesse stellen, wie er sie etwa in Moskau erprobt hat. Er wolle "einen Diskursraum schaffen, in dem wir einander zuhören", erzählt Milo Rau auf SN-Anfrage. "In meinen Moskauer Prozessen haben Dissidenten und Orthodoxe einander zugehört; einfach, weil es das Format vorschreibt." Zudem wird ein Rat der Republik initiiert, in dem neben Elfriede Jelinek oder Sibylle Berg auch 69 Wiener Bürger aus sämtlichen 23 Bezirken sitzen.
Bei allem partizipatorischen Innovationsgeist: Den Kern der Wiener Festwochen, die am 17. Mai eröffnet werden, bilden weiterhin Musik- und Sprechtheaterproduktionen sowie Performances. Kim de l'Horizon adaptiert seinen mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Blutbuch" als "Blutstück" für die Bühne, Choreographin Florentina Holzinger inszeniert Oper und verschneidet Paul Hindemiths einstiges Skandalstück "Sancta Susanna" mit Elementen der Heiligen Messe. Milo Rau selbst zeigt seine Inszenierung von "La Clemenza di Tito", die erstmals 2021 in Genf zu sehen war und in Wien mit der Camerata Salzburg realisiert wird. "Die Produktion ändert sich von Stadt zu Stadt. Es werden viele Wiener auf der Bühne zu sehen sein, die ihre Geschichten erzählen", schildert der Regisseur.
Einen feministischen Zugang zum Genre Musiktheater präsentiert Bushra El-Turk mit ihrer Oper "Woman at Point Zero". Die britische Komponistin vertont die Geschichte einer Frau, die für den Mord an ihrem Zuhälter zum Tod verurteilt wird, mit Zutaten aus westlichen und östlichen Musiktraditionen.
Schöpferischen Frauen wollen die Wiener Festwochen auch mit einer "Akademie Zweite Moderne" mehr Sichtbarkeit verleihen. Pro Jahr werden zehn Komponistinnen zum Festival eingeladen und deren Musik vom Klangforum Wien aufgeführt. "Wien ist die Hauptstadt der Moderne. Die zweite Moderne soll alle Kontinente umfassen und weiblicher werden", sagt Milo Rau.
Bleibt noch die Frage um die Ausladung von Teodor Currentzis, nachdem die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv ein gemeinsames Projekt mit dem griechisch-russischen Dirigenten verweigert hat: "Ich wollte nicht beide Konzerte absagen und entschied mich für Lyniv", erzählt der Festwochenchef den SN. Seine Idee eines Diskursraums sei hier gescheitert. "Aber Scheitern ist immer eine Variante."
