Hätte sich ein Autor die Geschichte von Rachel Ruysch ausgedacht, würden selbst Filmproduzenten einiges streichen - zum Beispiel den Lottogewinn. Die Niederländerin hat 1723 den Jackpot geknackt, da ging die zehnfache Mutter bereits auf die 60 zu und konnte vom Verkauf ihrer begehrten Blumenbilder vorzüglich leben.
Sie war ein Glückspilz, um in der Botanik zu bleiben. Die 1665 in Den Haag geborene Malerin hat aber auch ihr Leben lang Unglaubliches geleistet. Noch 1749, im Jahr vor ihrem Tod, fand Johan van Gool sie selbstverständlich an der Staffelei. Ihr erster Biograf war angetan von der Geistesgegenwart der 84-Jährigen, die sich nie mit gefälliger Durchschnittsware zufriedengab. Auf Blüten und unter Blättern lässt sie Käfer und Echsen krabbeln; manchmal geht es um Leben und Tod, und das so naturgetreu, dass Fachleute mühelos die Arten bestimmen können.
In entdeckungshungrigen Zeiten war das hoch angesehen, nicht nur in den Niederlanden, sondern quer durch Europa - von Düsseldorf, wo Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz sie als Hofkünstlerin engagierte, bis Sankt Petersburg, Wien oder Florenz. Da wundert man sich, dass Rachel Ruysch erst jetzt in der Alten Pinakothek in München ihre erste umfassende Ausstellung erhält, mit Folgestationen in Toledo und Boston. Dabei sind ihre Werke nie vom Kunstmarkt verschwunden.
Rachel Ruysch ist keine Wiederentdeckung. In ihrem künstlerischen wie naturforscherischen Interesse ist sie ein Phänomen. Ihr Vater, Frederik Ruysch, war renommierter Botaniker und Anatom, zudem Prälektor der Amsterdamer Chirurgengilde.
Im Hause Ruysch brauchte man gute Nerven: Überall standen Gläser mit eingelegten Kröten und Schlangen. Dazu kamen unzählige Insekten und Pflanzen. In der Alten Pinakothek ist das jetzt fein geordnet in einem Saal zu studieren - die jeweiligen Staatssammlungen haben Spitzenobjekte herausgerückt - und mit den entsprechenden Ausführungen Ruyschs und von deren Zeitgenossin Maria Sibylla Merian zu vergleichen. Frederik Ruysch inszenierte kunstvoll präparierte menschliche Überreste als allegorische Szenen in Landschaften aus Nierensteinen und Blutgefäßen.
Dieses Gruselkabinett wurde als "Museum Anatomicum Ruyschianum" gleich nach seiner Eröffnung 1671 zur Touristenattraktion. Zar Peter der Große und Johann Wilhelm von der Pfalz schauten vorbei und kamen so in den Genuss von Rachel Ruyschs Stillleben.
Vom Vater wurde sie früh angeleitet, nach der Natur zu zeichnen. Das Künstlerische lag in der Familie: Großvater Pieter Post war als Architekt unter anderem am Mauritshuis in Den Haag beteiligt. Dessen Bruder Frans hatte den Holländern die paradiesischen Landschaften Südamerikas nahegebracht. Das sind nur zwei Vertreter dieser durchwegs talentierten Verwandtschaft.
Ein Mädchen allerdings bei einem der bekanntesten Maler Amsterdams in die Lehre zu geben, spricht für die liberale Haltung Frederik Ruyschs. Und Willem van Aelst bildet gleich noch Rachels Schwester Anna aus, die ihr mit wenigen, ebenso erstaunlichen Bildern in der Alten Pinakothek vertreten ist. Anna legt als Ehefrau leider den Pinsel aus der Hand - im Gegensatz zu Rachel, die nach ihrer Heirat 1693 mit dem Porträtisten Juriaen Pool sogar ermuntert wird weiterzumachen.
Nun spaziert man in München durch dieses Œuvre, kann verfolgen, wie noble Rosen und gestreifte Nelken schwungvoll werden, wie durch Gräser und Kräuter allerlei Getier wuselt und wie auch exotische Pflanzen eine geeigene Note erhalten. Rachel Ruysch ist näher an der Natur als die anderen: Nicht die dünnsten Staubfäden sind erfunden, und doch konstruiert sie eine eigene Wirklichkeit. Was sie kombiniert, blüht selten gleichzeitig und kommt oft aus unterschiedlichen Vegetationszonen.
Auch Ruyschs Fauna trifft in der Realität selten aufeinander: Dass sich eine Eidechse über ein Vogelnest hermacht wie im 1709 gemalten Früchtestück aus der Alten Pinakothek, ist eine verwegene Erfindung. Und eine Vogelspinne muss ihren Nachwuchs kaum gegen einen Skink verteidigen. Aber dieses Schauspiel gibt Rachel Ruyschs Kunst den Kick. Deshalb warteten Kunden geduldig auf eines von höchstens zwei Gemälden pro Jahr.
Im Alter besinnt sie sich auf die Blumensträußchen ihrer Anfänge. Angeregt vom jungen Kollegen Jan van Huysum verzichtet sie auf das dramatisierende Hell-Dunkel zugunsten einer einheitlich freundlichen Beleuchtung. Dieses Gleiten ins Rokokohafte geht mit einer bonbonfarbigen Palette einher, das Ergebnis wirkt zuweilen künstlich. Raffiniert ist das allemal, und bei Bienen und Schmetterlingen macht ihr sowieso keiner etwas vor.
Ausstellung: Rachel Ruysch,
"Nature into Art", der Alte Pinakothek, München, bis 16. März 2025.