Auch der Kulturminister im Demonstrationszug
Filmemacher wie Isaki Lacuesta, Inés Paris oder Julio Medem zogen mit Motaz Malhees und Saja Kilani, den beiden Protagonisten des Films, hinter einem riesigen Banner mit der Aufschrift "Stoppt Genozid. Cinema with Palestine" vom Victoria Eugenia Theater ausgehend durch die Straßen San Sebastiáns. Auch Spaniens Kulturminister Ernest Urtasun und Festivaldirektor José Luis Rebordinos nahmen an dem Protestmarsch teil, der von mehreren Tausend Menschen begleitet wurde. Das Festival verurteilte das Vorgehen Israels gegenüber der palästinensischen Bevölkerung bereits bei der Eröffnungsgala als "Völkermord".
Am Ende des Protestmarsches wurde vor dem Rathaus ein Manifest vorgelesen, das von rund 500 spanischen Filmschaffenden unterzeichnet war. Darunter auch Kultregisseur Pedro Almodóvar und Spaniens Hollywoodstars und Oscarpreisträger Penelope Cruz und Javier Bardem.
"Aus der Welt des Kinos solidarisieren wir uns mit Palästina", hieß es in dem Manifest, das darauf verwies, dass der Fall von Hind Rajab nur einer von Hunderten von Fällen sei, "die sich täglich in Palästina ereignen, und ein klares Beispiel für die extreme Grausamkeit und Brutalität, die den unschuldigsten Mitgliedern unserer Gesellschaft, in diesem Fall einem sechsjährigen Mädchen, zugefügt wird. [...] Hind starb nicht einfach durch eine Explosion. Sie starb aufgrund der zur Gewohnheit gewordenen Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft".
Drama "The Voice of Hind Rajab" als Ausgangspunkt
Ben Hanias bewegendes Palästina-Drama nimmt in San Sebastián im Wettbewerb für den angesehenen Publikumspreis teil. In dem Drama, das jüngst auf dem Filmfestival in Venedig den Grand Prix der Jury erhielt, erzählt die Regisseurin die wahre und herzzerreißende Geschichte von Hind Rajab. Das sechsjährige Mädchen war im Gazastreifen stundenlang verletzt neben ihren toten Familienangehörigen im Auto eingesperrt, das von einem israelischen Panzer beschossen wurde. Über einen alarmierten Onkel in Deutschland konnte der Rote Halbmond mit dem kleinen Mädchen Kontakt aufnehmen. Die Ambulanz war nur acht Minuten von ihr entfernt. Israel gab aber keinen freien Korridor frei.
Stundenlang sprechen die Helfer in der Notrufzentrale des Roten Halbmonds dem Mädchen Mut zu, bis Israel am Abend endlich grünes Licht für einen Rettungsambulanz gibt. Doch als die Helfer nur wenige Meter von Hind Rajab entfernt sind, zerstört der israelische Panzer auch die Ambulanz, tötet die Sanitäter. Um 19.30 Uhr verstummt schließlich Rajabs Stimme am anderen Ende der Leitung. Der Dialog und die Hilfeschreie der Aufzeichnung mit der Originalstimme Rajabs sind erschütternd.
Regisseurin Ben Hania, deren Film sich stets an der Grenze zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm bewegt, warnt im Vorspann vor: "Dies ist eine Dramatisierung auf Grundlage realer Ereignisse. Die Notrufe wurden an diesem Tag aufgezeichnet." Die Warnung wirkt erschreckend, doch die Realität, die folgt, ist noch unerbittlicher.
Regisseur Armendáriz begründet Vorgehen
"Ich fühle mich wie die Protagonisten des Films mit einer absoluten Ohnmacht, nichts machen zu können. Wir erleben live mit, wie Israels Premiere Benjamin Netanjahu mit Erlaubnis von US-Präsident Donald Trump einen Völkermord begeht, und die internationale Staatengemeinschaft reagiert kaum oder nur vage", sagte der in Spanien bekannte baskische Regisseur und Drehbuchautor Montxo Armendáriz nach der Filmvorführung im Gespräch mit der APA.
"Während wir hier reden, werden Hunderte unschuldige Kinder wie Hind Rajab in Gaza getötet. Es ist absolut frustrierend", so Armendáriz. Die Filmbranche könne dabei wenig mehr machen, als der Gesellschaft mit Daten und Geschichten einen Spiegel der Realität vorzuhalten, um die Menschen wachzurütteln und mit Protestaktionen wie dieser zu sensibilisieren, meinte der Filmemacher. "Es ist die Gesellschaft, die jetzt den Druck auf unsere Politiker erhöhen muss, denn ohne diesen sehen wir, was passiert - praktisch nichts", stellte der baskische Regisseur klar.
Schon das gesamte Filmfestival über trugen fast alle teilnehmenden Gäste, Regisseure und Schauspieler demonstrativ die "Stopp Genozid"-Anstecker mit dem Symbol für die palästinensische Flagge. Zigtausende Menschen nahmen am Mittwochabend an dem Protestmarsch teil.
Teil der allgemeinen Stimmung in Spanien
Spaniens Filmbranche nutzt den internationalen Medienfokus, um ein "freies Palästina" zu fordern und reiht sich dabei in eine weit verbreitete Stimmung im Land ein. Zuletzt kam es Anfang September bei der spanischen Radrundfahrt Vuelta a España zu massiven pro-palästinensischen Protesten, die insbesondere das teilnehmende Team aus Israel im Fokus hatten und die letzte Etappe in Madrid zum vorzeitigen Abbruch zwangen.
Vor einigen Wochen kündigte auch Spanien als erstes "Big Five"-Land des Eurovision Song Contest an, nicht an der kommenden Ausgabe in Wien 2026 teilzunehmen, sollte Israel nicht ausgeschlossen werden.
Und Spanien gehört zu den ersten EU-Ländern, welche Palästina als eigenen Staat anerkannte und sich für eine Zwei-Staatenlösung aussprachen. Erst am Dienstag verhängte die spanische Regierung ein komplettes Waffenembargo gegen Israel. Das Embargo ist Teil eines Pakets von neun Maßnahmen, welche der sozialistische Regierungschef Pedro Sánchez kürzlich angekündigt hatte. Dazu gehören auch Einreiseverbote für israelische Minister, zusätzliche Mittel für das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) sowie ein Importverbot für Produkte aus israelischen Siedlungen.
(Von Manuel Meyer/APA)
(S E R V I C E - www.sansebastianfestival.com)