Das Bild eines Mannes am Abgrund und zugleich ein außergewöhnliches Porträt von New York zeichnet Regisseur Steve McQueen im Film "Shame", der am Freitag ins Kino kommt. Für diesen Mann in New York - er heißt Brandon und wird von Michael Fassbender gespielt - sind Frauen wie ein Selbstbedienungsbuffet. Die Jagd nach dem schnellen Orgasmus ist ihm alles überschattender Selbstzweck.
Über Themen dieses Films - Sex, Scham und Karriere - sprach der Hauptdarsteller mit den SN.
SN: Der Titel des Films ist "Shame", Scham. Hat unsere Gesellschaft dieses Gefühl nicht schon lang hinter sich?
Fassbender: Dieses Wort ist hier nicht direkt im Zusammenhang mit Sex zu verstehen. Scham ist ein Begriff, der unglaublich oft vorkommt, wenn man mit Suchtkranken spricht. Ich denke, es hat etwas mit dem Verlust von Kontrolle zu tun, zu sagen: "Ich habe mich so geschämt nach dem Akt - wie bin ich nur in diese Umstände geraten? Ich habe die Kontrolle über meine Entscheidungen verloren, meine Taten, alles wurde von meiner Sucht diktiert!"
Das hat nichts direkt mit der Sexsucht zu tun, das ist dasselbe bei einem Alkoholiker, wenn der morgens aufwacht, und die Erinnerung an die Nacht zuvor eine teuflische Diashow ist. Dass so jemand erst eine halbe Flasche Schnaps braucht, um den Tag beginnen zu können, damit ist große Scham verknüpft.
SN: War es schwierig, sich für die Kamera auszuziehen, also diese Scham zu überwinden?
Fassbender: Steve hatte mir schon 2008 von dem Thema erzählt, ich hatte also Jahre Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen. Wir sprechen hier von Sexsucht, also war ich mir im Klaren, dass es da auch Nacktszenen gibt. Natürlich ist das etwas peinlich, aber da muss man durch.
Jede dieser Sexszenen ist eine Gelegenheit, eine andere Facette von Brandons Charakter zu zeigen: In der Szene mit der Prostituierten ist er ein Mann, der in ein rituelles Verhalten involviert ist und die Kontrolle darüber hat. In der Szene mit seiner Kollegin sieht man, dass er in einer Situation echter Intimität nicht fähig ist zum Vollzug. Danach sehen wir, wie er sich wieder seiner selbst versichert, als er es mit der Frau gegen das Fenster gepresst tut, in einem sehr physischen Akt. Dann ist da die Szene mit dem Dreier, in der wir die Tiefe seiner Sucht erkennen, den Zwang, den Selbsthass, die Einsamkeit. All das will ich zeigen. Da kann ich nicht darüber nachdenken, wie viel nackte Haut Sie zu sehen bekommen.?_it?>?it?>
SN: Wie sind Sie Brandon nahegekommen?
Fassbender: Ich gehe zuerst vom Drehbuch aus, und durch Wiederholungen lerne ich die Figur genau kennen. Aber ich habe auch verschiedene Formen sexueller Sucht recherchiert, mich damit befasst, wie viele Menschen betroffen sind und so weiter. Offiziell ist dieses Verhalten übrigens nicht als Sucht anerkannt, auch wenn der Gedanke in der Gesellschaft schon angekommen ist.
SN: Wenn Sie davon ausgehen dass Brandon krank ist, was ist dann gesunde Sexualität?
Fassbender: Ich weiß nicht, vermutlich, dass beide Beteiligten etwas Gleichberechtigtes von diesem Austausch haben, nicht? Also etwas, das einen nährt, und nicht an einem zehrt. Wenn aber jemand sagt. "Ich habe viel Sex und ich genieße es", dann bedeutet das doch nicht, dass er sexsüchtig ist, um Himmels willen!
Das ist vergleichbar mit der Flasche Wein zum Essen oder ein paar Drinks nach Feierabend - eine andere Sache als der Typ, der morgens Schnaps braucht, um auch nur aufstehen zu können. So wie ich Sucht verstehe, bedeutet das ein Verhaltensmuster, das einen selbst schädigt und das den Beziehungen einen Schaden zufügt. Man ist sich dieses Schadens bewusst, aber man kann das Muster nicht durchbrechen.
SN: Sie haben Filme gedreht, die finanziell großen Erfolg hatten, dann aber auch schwerer zugängliche Arbeiten wie die beiden Filme von Steve McQueen, denen nun mit "Shame" eine dritte Zusammenarbeit gefolgt ist. Was reizt Sie an der Arbeit mit ihm?
Fassbender: Schon seine Drehbücher sind spannend, nicht formelhaft. Ich lese viele Drehbücher, und bei unglaublich vielen weiß man schon auf Seite 10, was am Ende passieren wird. Die Figuren bei Steve leiden an glaubwürdigen Konflikten, da gibt es echtes Drama. Ich mag es, wenn die Zuschauer darüber nachdenken müssen, was sie von den Menschen im Film halten. Ich finde es gut, wenn ein Film den moralischen Kompass seiner Zuschauer infrage stellt und nicht nur eineinhalb Stunden Zeitvertreib mit einer Schachtel Popcorn bedeutet.
SN: Vermissen Sie das in den "X-Men"-Filmen oder in Ridley Scotts "Prometheus" (ab August 2012)?
Fassbender: Ach, ich mische die Genres gerne durch. Ich gehe ja auch ins Kino, um einmal einen Abenteuerfilm zu sehen, und dann wieder ein verstörendes Drama. Und um ehrlich zu sein, hat das auch einen praktischen Aspekt: Große Studiofilme bringen mir den Zugang zu einem breiten Publikum und erlauben mir wiederum, meine eigene Produktionsfirma ins Laufen zu bringen. Und jetzt kann ich auch meine eigenen Stoffe entwickeln.
Shame. Drama, Großbritannien 2011. Regie: Steve McQueen. Mit Michael Fassbender, Carey Mulligan, James Badge Dale, Nicole Beharie. Start: 9. 3.