Womöglich sind es immer nur ein paar Sekunden. Vielleicht Minuten. Danach ist alles anders. Nichts, wie es war. Danach schaut die Welt anders aus, falls sie überhaupt noch steht. Die Mauer des Hauses gegenüber stand jedenfalls nicht mehr, "Ein Riss, der immer größer wurde. Es bröckelte einfach alles, fiel zusammen. Nichts mehr da." Songwriter Tobias Pötzelsberger war von einem schweren Erdbeben aus dem Schlaf gerissen worden. Vor zwei Jahren. In Santiago de Chile.
Mit dem Song "Oh, Santiago" beginnt das zweite Album des 28-Jährigen, der unter dem Namen The More Or The Less Musik macht. Es ist die künstlerische Aufarbeitung eines Ereignisses, von dem er - zufällig hineingeraten - als ORF-Journalist berichtete. Emotionales Nachdenken über das Dasein, das aus diesem Beben wuchs, hatte in seinen Berichten keinen Platz. Nun aber prägt es elf Songs. Sonne nach dem BebenIn der Früh nach dem Beben sei die Sonne aufgegangen, ein wunderschöner Tag sei es gewesen, erzählt Pötzelsberger im SN-Gespräch. So genau auf dem Grat zwischen Zerstörung und Schönheit stand er nie zuvor. Aus diesem Zwiespalt entstanden Songs. Das Album bekam den Titel "Keep Calm". Weil es eh nichts helfe sich aufzuregen, sagt Pötzelberger. Es gelte Ruhe zu bewahren, egal wie dramatisch eine Situation sei - das habe er gelernt.
Die allzu oft ignorierte Fragilität des menschlichen Daseins lotet "Keep Calm" aus. Das passiert nicht tief psychologisch oder belehrend und theoretisch. Der Blick auf die Welt passiert in der Erzählung kleiner Beobachtungen. Es geht um Begebenheiten, aber auch um die Reaktionen des eigenen Herzens. Von unsterblicher Hoffnung auf Liebe wird berichtet, aber auch von unausweichlichen Abschieden. Da tönen helle, freundliche Momente poppiger Zuversicht. Es strudelt einen aber auch durch düstere Moll-Szenen. Dabei ertrinken The More or The Less nicht in Schmerz, sondern retten sich in die Melancholie.Vom Liedermacher zur Band"We, The People", das Debüt von 2009, war hauptsächlich von folkiger Akustik geprägt. Das neue Album schwelgt in breiten Popsounds. "Die Band spielte eine wesentlich größere Rolle", sagt Pötzelsberger. Was als Soloprojekt mit Gästen begann, wurde - mit Frank Wendter, Hannes Gappmaier, Martin Möth und Gernot Haslauer - zu einem Bandunternehmen, in dem der Songschreiber aber die letzte Instanz bleibt. Die Ausweitung der Soundlandschaft wird gut genutzt. Fein austariert sind die Einsätze der Instrumente. Manchmal tauchen sie in breiter Front auf, manchmal als behutsame Einzelkämpfer. Mutig nutzt Pötzelsberger die Möglichkeiten seiner Stimme, der die Erfahrung der vergangenen Bühnenjahre anzumerken ist. Gearbeitet wird mit großer, weit ausholender Geste, die ins Hymnische geht. Dass dabei immer Intimität entsteht, dass sich die Songs - thematisch und musikalisch - immer ganz nah anfühlen, untermauert einen Reifungsprozess, den The More or The Less seit ihrem Debüt durchgemacht haben.
Das Grundmotiv, eine Suche zwischen der brutalen Zerbrechlichkeit des Daseins und seiner puren Schönheit, wird durchgehalten. Womöglich liegt das auch daran, dass sich manche Dinge, ein heftiges Erdbeben etwa, nicht locker lässig abschütteln und verarbeiten lassen: "And I do not believe you / it will not be o. k. / the fear of a lifetime / is not just passing by", heißt es im Song "Oh Santiago".
CD: The More or The Less: Keep Calm (Lindo). Live: Samstag, 14.4., Salzburg (ARGEkultur, 20 Uhr). 18. 4., Linz; 9. 5., Villach; 26. 5., Graz.