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Es brodelt gewaltig in der Familie im neuen Roman von Sylvain Prudhomme

Der Franzose Sylvain Prudhomme stierlt im Roman "Der Junge im Taxi" in den verdrängten Bereichen der Geschichte.

Autor Sylvain Prudhomme
Autor Sylvain Prudhomme

In Familien spielt sich im Kleinen ab, was in der Gesellschaft sowieso der Fall ist. Ein Land, eine Kultur, eine Gemeinschaft identifiziert sich über Erfolge und Leistungen, Fehlverhalten bleiben ausgeblendet. Das macht die Beschäftigung mit Geschichte so unheimlich, weil sie die gut verriegelten Räume knackt und Menschen als eine gefährliche Spezies ausweist, für die Gewalt ein probates Mittel darstellt, der eigenen Gruppe einen Vorteil zu verschaffen. Literatur ist auch dazu da, all das Verschwiegene zur Sprache zu bringen.

Im jüngsten Roman des französischen Schriftstellers Sylvain Prudhomme wirken sich die Folgen verheerend auf ein Kind aus.

Eine Familie, die gerne ihren kleinbürgerlichen Frieden in familiärer Zufriedenheit gewahrt sehen möchte, bekommt ihn nur um den Preis des Stillhaltens. Auf dem Begräbnis des Großvaters bekommt der Erzähler einen Hinweis, dass mit diesem Tod gleichzeitig ein Familiengeheimnis entsorgt wird. Das lässt den Erzähler nicht ruhen. Als der Großvater als Soldat der Alliierten auf einem Hof in Deutschland einquartiert worden war, ging er mit der Tochter ein Verhältnis ein, der ein Kind entsprungen ist. Er machte sich aus dem Staub, heiratete in Frankreich, übernahm einen Betrieb in Algerien, das Kind existierte für ihn nicht. Er ließ sich sogar verleugnen, als sich sein Sohn als Jugendlicher vom Bodensee aus im Taxi auf den Weg machte, um seinen Vater zu treffen. Diesen inzwischen älteren Mann zu finden wird zur Obsession des Erzählers.

Die Geschichte sucht sich ihre Opfer. Bei Prudhomme betrifft das eine Familie, nach außen durchaus intakt, die ein uneheliches Kind verleugnet. Darunter leidet auch dessen Mutter, die in der Nachkriegszeit einen schweren Stand gehabt haben muss. Sie blieb in Deutschland allein zurück mit dem ledigen Sohn von einem entschwundenen Soldaten der französischen Besetzernation. Der gründete in Frankreich eine Familie, soll dennoch über Jahre Kontakt mit der Deutschen, seiner eigentlich großen Liebe, gehalten haben. Er zog nach Algerien, leitete einen Familienbetrieb, um 1962, nach Ende des Krieges gegen die Kolonialherren, das Land fluchtartig zu verlassen. Es folgt ein Neuanfang nahe Toulouse - es sieht so aus, als ob die zwei Königskinder, die einander so lieb hatten, nicht zusammenkommen konnten. Familiäre Verpflichtungen, Ehre und Vernunft gehen vor. Das zieht eine Geschichte von Feigheit, Kälte und Unverstand nach sich. Auf der Strecke bleibt das Kind M., das sich mit der Existenz als ungeliebtes Wesen abfinden muss.

M. ist die Leerstelle im Familienverband. Erst die Enkelgeneration sieht sich berufen, sie zu füllen. Die Hemmschwelle Scham fällt weg. Der Erzähler tritt auf als einer, der Ordnung schaffen will und mit der Legende der heilen Welt aufräumt. Wie wenig heil sich diese nämlich darstellt, kennt er aus eigener Erfahrung. Gerade hat er sich getrennt von seiner Frau, getrennt kümmern sie sich fortan um die Kinder. Dieses Lebensmodell entspricht dem, zu dem sich der Großvater als Kind einer anderen, strengeren Zeit, nie durchdringen wollte. Indem er die Frau seines Herzens verlassen hat, hat er Liebesverrat begangen.

Die Großmutter sieht sich als Hüterin der Familienehre, erlässt für den Enkel ein Verbot, die Wunden der Vergangenheit aufzureißen. Doch der hat einen anderen Anspruch ans Leben: "Ich möchte in einer Welt leben, in der die Dinge direkt gesagt werden können, in der man der Wahrheit ins Gesicht schaut." So sieht die Abrechnung mit der Geschichtsvergessenheit aus, die weit über das Private hinausgeht. Prudhomme stierlt gern in den verdrängten Bereichen der Geschichte, erneut leistet er großartige Arbeit.

Buch: Sylvain Prudhomme: "Der Junge im Taxi", Unionsverlag, 2025.

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