Das finale Buch des 2022 gestorbenen Autors birgt einige Überraschungen - wie ein Symposium zeigte.
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Glanz und Verfall Venedigs als Symbol der Welt: Gerhard Roth 2019 vor dem Caffè Florian auf dem Markusplatz.
Francis Bacon lebt in einer dystopischen Wüstenstadt. Francisco de Goya malt immer wieder denselben Hund. Mensch und Tier sprechen eine Sprache und alle Gesetze der Physik sind aufgehoben. Fliegen, sich verwandeln - alles ist möglich. Der Autor Gerhard Roth hat an einer "Poperzählung, die auch Comicelemente aufweist" (Schauspieler Johannes Silberschneider), gearbeitet, als er vor rund 14 Monaten starb. Diese Fragment gebliebene "Jenseitsreise", die Roths Liebe zum Experimentellen, zum Wagnis belegt, wird vermutlich 2024 erscheinen, wie der langjährige Roth-Lektor Jürgen Hosemann auf dem Symposium "Gerhard Roth. Archen des Schreibens" im Literaturhaus Graz verriet.
Die "Jenseitsreise" lässt an Lewis Carrolls "Alice im Wunderland", auch an Saint-Exupérys "Der kleine Prinz" denken, zieht seine Vitalität aus einem magischen Realismus, der sich an keinerlei Schreibregeln und Konventionen des Erzählens hält. "Niemand und nichts ist real. Am wenigsten die Wahrheit", heißt es an einer Stelle. Das Buch sei, so die Roth-Expertin Daniela Bartens vom Grazer Franz-Nabl-Institut, eine Selbstbefragung am Ende eines Lebens: "Ein überraschend schwieriges Buch." Laut Witwe Senta Roth habe der Autor unter großem Druck daran gearbeitet, die Angst, es nicht fertigbringen zu können, sei groß gewesen.
"Schreibend baute Roth seine Archen. "
Daniela Bartens
Franz-Nabl-Institut
Er war ein Weltenbeobachter und Bibliotheksreisender, ein passionierter Rechercheur und Materialsammler, ein politischer Geist und ein Erzähler mit hoher literarischer Qualität. Seine Begierde, die Welt zu begreifen, zu erfassen, war unstillbar. Gerhard Roth berichtete in einem Essay vom "Wahn, die gesamte Welt bis in ihre Einzelteile zu beziffern, um sie vielleicht nach der Apokalypse anhand exakter Pläne wieder zusammenzubauen". Dabei verlor er sich, so Bartens, "mit sichtlichem Vergnügen in ausschweifenden Aufzählungen von Sammlungsobjekten aus den Wunderkammern der Wirklichkeit". Das Grazer Symposium unternahm einen ersten Versuch, das Gesamtwerk des gebürtigen Grazers posthum zu verorten.
"Der tote Autor braucht den Lektor jetzt mehr als je zuvor", sagte der im S.-Fischer-Verlag tätige Jürgen Hosemann und zog eine Bilanz über die elf Bücher und 22 Jahre währende Zusammenarbeit: "Ich habe die Materialbegeisterung des Autors nicht immer genossen, aber fast immer verstanden." Roth habe sich mit Vorschlägen zu Kürzungen und Streichungen schwergetan, doch die Details waren eben die Bausteine seiner Weltbeschreibung. Immer wieder habe man auch über Austriazismen wie Kasten, Sessel oder Sackerl debattiert. Als Roth den Gegenvorschlag Plastiktüte ablehnte, habe man mit Kunststofftasche und Nylontasche Kompromisse geschlossen: "Die waren verstehbar und falsch." Hosemann verschwieg auch Krisen zwischen dem Verlag und dem Autor nicht, Roth habe altersbedingte Ängste gehabt, vergessen zu werden. Eine letztlich unbegründete Angst: "Sein Status als Hausautor stand nie infrage." Roth sei Teil seines Lebens geworden, sagte Hosemann, der von einem Glück sprach, sich "in diesen Wörtern selbst begegnen zu dürfen".
Die Ö1-Journalistin Kristina Pfoser erinnerte an die frühen "Gesundheitsspaziergänge" Roths durch die Südweststeiermark mit Kamera, Block und Schreibgerät. Diese Streifzüge durch eine für den Stadtmenschen "völlig andere Lebensform" seien zur Inspiration für Bücher wie "Der Stille Ozean" oder "Landläufiger Tod" geworden. Auch wenn Roth später mit den Techniken des Kriminalromans arbeitete, fühlte er sich nie als Krimiautor: "Ich schreibe Verbrechensgeschichten, keine Kriminalromane", sagte Roth, der betonte, an den Lösungen der Fälle eigentlich nie interessiert gewesen zu sein.
Ob in seinen Wien-Erkundungen oder Expeditionen nach Japan, Ägypten oder Griechenland: Roths Schreibtechnik sei eine Vermischung von Wirklichkeit und Erfindung gewesen, betonte Pfoser. Mit einer Lust am Sich-Verirren als Begleiterin: "Roth war ein Meister der Verrätselung." Ein Motor seiner Arbeit war die Suche nach Antworten auf die Frage "Was ist der Mensch?" Und da kam ihm die Stadt Venedig, die ihn lebenslang in ihren Bann zog, zur Hilfe. Glanz und Verfall der Lagunenstadt wurden für den Autor zu einer Metapher: "Venedig, das ist die ganze Welt in einer Nussschale."
Dass Roth wie auch Schriftstellerkollege Josef Winkler in ihren Werken ein Interesse am Tod, am Suizid zeigen, erläuterte der Literaturwissenschafter Thomas Combrink. Der Germanist Sven Hanuschek analysierte eine mögliche Verklärung des Wahnsinns durch Roth und schloss mit den Worten: "Dem eigenen Unterbewussten näherkommen, das ist gut gelungen im Werk von Gerhard Roth."
Germanist Stefan Alker-Windbichler widmete sich dem "Magnetismus der Büchersammlung", allein in Roths Wiener Wohnung lagern 24.000 Bände. Über die intensive Nähe des Autors zur bildenden Kunst referierte der Kunsthistoriker Günther Holler-Schuster: Roths Lust an Verwandlungen, an Gegenwelten sei durch Malerei und Objekte ("Kunst ist eine Zauberschrift") gestillt worden: "Ein Freund von Konzeptkunst war er nie."