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Todaro, Escher, Magnusson: Das sind die SN-Buchtipps der Woche

Kulturjournalist und Literaturexperte Anton Thuswaldner hat für die SN-Leserinnen und -Leser seine Buchempfehlungen für das Sommerwochenende zusammengestellt. Viel Spaß beim Stöbern!

Buchtipps der Woche.
Buchtipps der Woche.

Lenora Todaro: Seelöwen auf dem Parkplatz. Mit Bildern von Annika Siemens. Geb., 60 S. minedition, Zürich 2021.

Für Tiere der Wildnis hatte die Covid19-Pandemie und die daraus folgenden Lockdowns erfreuliche Nebenwirkungen. Die Menschen blieben zu Hause, Straßen und Plätze blieben leer, es tat sich ein ungewohnter Freiraum auf, den sie bald zu nutzen wussten. Von zwölf Begebenheiten aus Australien, Südafrika, Argentinien und anderswo weiß Lenora Todaro in knapper Form zu berichten, und Annika Siemens malt auf einer Doppelseite in überraschenden Bildern aus, wie sich Tiere daran machen, ihren Lebensraum zu erweitern. In Haifa, Israel, zieht eine Herde von Wildschweinen durch die verlassenen Straßen. "Schnüffelnd werden Mülleimer umgekippt und ganze Gärten verwüstet." Auf dem Bild sieht man, wie vier Wildschweine in einem Brunnen ein Bad nehmen, niemand stört sie. Hinter ihnen spuckt eine Steinfigur Wasser. So eignen sich die Wesen aus der wilden Natur kurzerhand Errungenschaften der Zivilisation an. Kindern ab vier Jahren kann man mit diesem Buch leicht bei ihrer Neugier packen und die Tierwelt näherbringen.

Elisabeth Escher: Das Fenster zum Himmel. Brosch., 315 S. Bernardus-Verlag, Mainz.

Die Salzburgerin Elisabeth Escher schreibt Romane, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Die Literarisierung erlaubt ihr mit dem Stoff frei umzugehen, wo die Überlieferung und die Dokumente nicht hinreichen, hilft sie mit ihrer Fantasie nach. Gleichzeitig bringt sie ihren Leserinnen und Lesern österreichische Zeitgeschichte nahe, wenn sie davon erzählt, wie sich klassische Machtverhältnisse im Leben von Einzelnen niederschlagen. Marie ist eine, die als "Zigeunerkind", wie es heißt, in der Gesellschaft ganz unten steht. In ein Heim gesteckt erlebt sie die Hölle von Gewalt und Verachtung. Erst als ein Pfarrer die Siebenjährige zu sich nimmt, verbessert sich ihre Lage umgehend. Sie erfährt sogar so etwas wie Liebe. Womit nicht zu rechnen war ist die Engstirnigkeit und Böswilligkeit der Dorfbewohner. Sie unterstellen dem Pfarrer jene erotischen Verwicklungen, die sie in ihrer Fantasie selber bedrängen. Dennoch gelingt es Escher, eine Geschichte der Befreiung von Bevormundungen zu erzählen. Ein junges Publikum erfährt eine Menge über österreichischen Kleinmut und dessen Folgen in den sechziger Jahren.


Kristof Magnusson: Ein Mann der Kunst. Roman. Geb., 237 S. Antje Kunstmann, München.

Der Kunstbetrieb hat seine Tücken: Künstler, die sich für den Nabel der Welt halten und sich maßlos überschätzen, Kunstfreunde, die dem Genius nahe sein wollen und sich damit zu Affen machen und ein Museumszirkus, der sich um die Arbeiten von verdienten Zeitgenossen kümmern soll. Kristoff Magnusson mag das alles nicht allzu ernst nehmen und findet deshalb reichlich Gelegenheit, sich darüber lustig zu machen. Wer die Kunst liebt, dem kann der Betrieb gehörig auf die Nerven gehen. KD Pratz heißt der Künstler, um den sich alles dreht und dem der Förderverein des Museums einen eigenen Anbau widmen will. Also trifft man sich mit dem Verehrten auf dessen Burg am Rhein. Die Gesellschaft der Eitlen und Durchtriebenen, dazu der Künstler, der mit großen Tönen die Welt und die Nichtigkeit der heutigen Kunst erklärt, das ergibt ein satirisches Panorama einer sich selbst feiernden Society von Hohlköpfen. Das ist kurzweilig und sehr lustig zu lesen, heillos übertrieben, aber wahr.

Urs Zürcher: Überwintern. Roman. Geb.,431 S. bilgerverlag, Zürich.

Jonas und Benjamin sind zwei junge Männer ganz unterschiedlichen Charakters. Das zeigt sich schon früh in der Schule, als der eine als ewiger Rebell der Unruhestifter ist, der andere angepasst einen soliden Bildungsweg vorzieht. Dennoch stehen sie einander nahe, im Lauf der Zeit hält ihre Beziehung der Zorn auf eine Welt zusammen, die in ihren Augen vollkommen falsch eingerichtet ist. Jonas, ein politischer Wirrkopf, schließt sich einer rechtsextremen Gruppierung an, lässt sich in Kampftechniken ausbilden. Als er in den Krieg zieht, der zwischen der Ukraine und Russland tobt, zieht Benjamin mit. Urs Zürcher hat kein klassisches Antikriegsbuch geschrieben, ihn interessieren mehr die Charaktere, die bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, weil ihnen unsere westliche Kultur zu schal und lau erscheint. Der Roman leistet eine Menge über die Sprache der jungen Männer, die roh und abgestumpft für ein katastrophales Weltbild steht. Ein Schweizer Autor, der über die Enge seiner Verhältnisse hinausblickt.

Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda. Geb., 374 S. dtv, München 2021.

Wie kommt eine junge Amerikanerin, Julia Phillips wurde 1988 geboren, dazu, einen Roman zu schreiben, der auf der entlegenen Halbinsel Kamtschatka spielt? Das hat mit ihrer persönlichen Geschichte zu sein, sagt sie. "Vieles der amerikanischen Kultur, in der ich groß geworden bin, ist eine Reaktion auf das amerikanische Verständnis von Russland." Sie studierte russische Sprache, Literatur und Geschichte, hielt sich für einige Zeit im Kamtschatka auf, deshalb ist ihr daran gelegen, ein anderes als das klischeebehaftete Russlandbild der Amerikaner vorzustellen. Im Roman porträtiert sie unterschiedliche Frauen, in jedem Kapitel nimmt sie die Perspektive einer anderen ein. So entsteht eine Vielschichtigkeit, die der ganzen Gesellschaft gerecht zu werden versucht. Alles beginnt mit der Entführung zweier Mädchen, in Episoden bekommen in der Folge die anderen Figuren, die mit dem Verbrechen auf irgendeine Weise in Verbindung gebracht werden, die Aufmerksamkeit. Ein starkes Roman-Debüt, schon vielfach ausgezeichnet.

Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc. Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Geb., 509 S. Tropen, Stuttgart 2021.

Wenn jemand den renommierten Booker Prize erhalten hat, wie das Bernardine Evaristo als erster schwarzer Schriftstellerin überhaupt im Jahr 2019 gelungen ist, dann ist höchste Qualität garantiert. Wovon erzählt sie? Von schwarzen Frauen, heraus kommt also also eine Geschichte von Unterdrückung und Aufbegehren, von Beleidigungen und Wut. Zwölf Frauenfiguren wählt sie aus, an deren Lebensentwürfen sie ein Stück verborgener Wirklichkeit in Europa auszustellen vermag. Die einzelnen Persönlichkeiten sind individuell genug gestaltet, dass sie zueinander durchaus in Widerspruch stehen, was einer komplexen Gesellschaft entspricht. An die besondere Form gewöhnt man sich leicht. Jede Lebensgeschichte wird in einem einzigen langen, sturzbachartigen Satz abgehandelt, die Lesbarkeit wird durch die Gliederung in reichlich Absätze garantiert. Das ist ein besonderes Buch, komponiert aus einer Vielfalt von Stimmen, das uns in eine unbekannte Welt einführt.

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